Helm Stierlin gestorben - Ein Nachruf von Fritz B. Simon

Nachruf für Helm Stierlin von Fritz B. Simon


Da meine Beziehung zu Helm Stierlin zwar professionell begann, dann aber zur Freundschaft wurde, werden meine - betrübten - Worte zu seinem Tod zwangsläufig eine Mischung aus Professionellem und Privatem werden.


Helm Stierlin gehört zu der Handvoll Menschen, die in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts im deutschsprachigen Bereich die Ideen der Familientherapie vertreten und verbreitet haben. Er war zwar nicht der einzige, aber sicher derjenige, der den größten Einfluss ausgeübt hat. Das Paradoxe an dieser Wirkung - und vielleicht ein Aspekt, der seinen Erfolg erklären kann - ist, dass Helm eher schüchtern und ohne jede Aggressivität oder Besserwisserei seine familientherapeutischen Konzepte vertreten hat, aber auch nie defensiv wurde oder versuchte, sich einem Mainstream anzupassen. Dabei mag ihm geholfen haben, dass er - frisch aus Amerika zurückgekehrt, wo er nach seinem Medizin- und Philosophiestudium (bei Karl Jaspers) in Heidelberg in der Schizophrenieforschung und -therapie gearbeitet hatte - nicht nur alle wichtigen in dem Bereich tätigen Forscher weltweit kannte und mit ihnen befreundet war, sondern auch alle, damals als die wissenschaftliche Anerkennung sichernden Ausbildungen genossen hatte und zu den entsprechenden Fachgesellschaften (z.B. den orthodoxen, internationalen Psychoanalytiker-Verbänden) gehörte. Er war vom Establishment akzeptiert und respektiert, und das war die Basis, die es ihm ermöglichte, Unorthodoxes zu tun.


1974 berufen als Leiter der „Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung“ der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidelberg erweiterte er den Titel seines Instituts um den Zusatz „und Familientherapie“, und verschob damit den Fokus seiner wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Zeitgleich gründete er zusammen mit Joseph Duss-von Werdt die Zeitschrift „Familiendynamik“. Wenn ich als jemand, der erst seit 1982 Mitarbeiter seines Instituts war und daher in erster Linie über die Zeit seither aus eigener Erfahrung sprechen kann, das Geheimnis von Helm Stierlins Wirkung benennen sollte, dann waren es einige seiner persönlichen Merkmale: Er war enorm neugierig, d.h. er gab sich nicht damit zufrieden, das etablierte Wissen in seinem Gebiet (der Psychiatrie) anzuwenden und weiterzugeben, sondern er wollte immer Neuland betreten. Dabei war er, das mag auf den ersten Blick als Widerspruch erscheinen, demütig und unbescheiden, ehrgeizig und unprätentiös. Er achtete, wenn jemand neue Ideen oder Methoden vorstellte, nicht auf den Status, Orden oder Ehrenzeichen des Betreffenden, sondern auf die Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit des Gesagten, d.h. es war die Sachdimension, in der ihn Neues faszinierte. Gleichzeitig hatte er keine Probleme, sich gegen irgendwelche Orthodoxien zu wenden, wenn sie ihm unsinnig erschienen. Seine Ambitionen waren hoch und er achtete, wenn er Kongresse organisierte (d.h. er ließ sie von uns organisieren, denn das gehörte nicht zu seinen Kernkompetenzen), nicht darauf, irgendwelche Hackordnungen einzuhalten. Bei Workshops und Kongressen ging die (Fach-)Welt bei uns ein und aus. Er war international bekannter als fast alle Heidelberger Professorenkollegen in höheren Besoldungsgruppen, so dass die, wenn sie denn in fremde Länder kamen, gefragt wurden, ob sie bei Helm Stierlin arbeiteten. Unsere „Heidelberger Gruppe“ war Helms Kreation. Er war im Blick auf die Auswahl seiner Mitarbeiter extrem eigensinnig, d.h. er fragte niemanden und ließ sich dabei nicht hineinreden. Er stellte dabei nur Menschen ein, die etwas konnten, was er nicht konnte (z.B. Kongresse organisieren). Dabei sorgte er für eine große Variationsbreite, d.h. wir, die wir dann zusammenarbeiten mussten/durften, hätten uns gegenseitig niemals ausgesucht. Aber in der Kooperation gelang es Helm, unsere Unterschiede fruchtbar werden zu lassen, indem hierarchiefrei kommuniziert wurde. Jeden Dienstag sahen wir z.B. gemeinsam in einem Forschungsprojekt Familien mit einem Mitglied, das mehrfach mit der Diagnose „Manisch-Depressive Psychose“ hospitalisiert worden war. Bei der Diskussion und der Reflexion unserer Erfahrungen konnte jeder alles, was er wusste, und alle Ideen und Erkenntnisse, die er zu haben meinte, ungefiltert in die Kommunikation bringen, und er nahm in der Summe immer mehr mit, als er hineingegeben hatte. (In Zeiten, in denen gegendert wird, fällt vielleicht auf, dass ich hier stets das Maskulinum verwende, und es ist nicht generisch, denn wir waren so etwas wie eine Boygroup - vom Alter her passt der Begriff natürlich nicht, da wir alle gestandene Fachärzte und Familienväter waren, aber vom „Spirit“ schon; Frauen hatten da keine Chance, einen Job zu bekommen, vielleicht, weil Helm zuhause von Frauen umgeben war: Mutter, Frau, Töchter…). Es war eine Gruppe von „Jungs“, die der Spaß verband, gegen den Strom zu schwimmen und Neues zu denken und zu tun, die - mit festem Boden unter den Füßen, den einem das Durchlaufen der damals etablierten und seriösen Ausbildungen vermittelte - Freude am Experimentieren hatten. So war es auch klar, dass 1989, als wir die verrückte Idee hatten, einen Verlag zu gründen, Helm zu den Gründern des Carl-Auer-Verlags gehörte - wieder ein Abenteuer, das er sich nicht entgehen ließ.


Dass diese Gruppenprozesse in unserem therapeutischen Team für uns kollektiv wie individuell so fruchtbar waren, liegt zu einem guten Teil daran, dass Helm, obwohl formal unser Chef, bei der Diskussion von Sachfragen keinerlei Anspruch zeigte, dass seinen Ideen oder Konzepten eine höhere Wichtigkeit zugebilligt werden müsste, als unseren. So kam es, dass wir all die Modelle, die er in den 30 Jahren vorher entwickelt hatte, wenig bis nicht zur Kenntnis nahmen. Ihm war das recht, denn er wollte ja inhaltlich weiterkommen und bedurfte nicht der Bestätigung durch uns. Ich muss gestehen, dass ich etliche seiner Konzepte erst viel später, nach unserer Zusammenarbeit angemessen zu würdigen lernte.


Wenn ich jetzt hier über Helm schreibe und dabei so gut wie gar nichts über seinen fachlichen Werdegang und seine fachlichen Verdienste geschrieben habe, so in der Gewissheit, dass dies andere tun werden oder bereits getan haben (es gibt ja eine Biografie von ihm im Carl-Auer Verlag). Mir ging es darum, den Verlust, den sein Tod für mich persönlich (und wahrscheinlich alle meine Heidelberger Kollegen) darstellt, in Worte zu fassen. Ich habe ihm viel zu verdanken.


Helms Tod ist aber sicher auch ein Verlust für alle, die ihn kannten, sowie für das Feld der Familientherapie.