„erwachsen“ hat ein „s“ zu viel | 3

Das epigenetische Echolot bringt uns nicht bloß mit dem militärischen Erbe unserer Vorfahren in Verbindung; wir stoßen auch auf die Fortwirkungen von Vertreibung und Heimatverlust sowie Neuanfang und mutiger Gestaltung. Es sind Narrative, in denen uns Überlieferung mit der Kraft einer milieutypischen bzw. kulturellen Prägung begegnet. So entstehen Schablonen der Weltaufordnung, denen wir uns verpflichtet fühlen, ohne dass uns bewusst ist, welche Loyalitäten wir damit ausdrücken. Indem wir unseren Vätern und Vorvätern sowie Müttern und Vormüttern „treu“ bleiben, erweisen wir ihnen Ehre. Sie dauern in dem fort, wie wir die Welt auch in ihrem Sinne gestalten. Es lohnt sich deshalb, nach den Narrativen in der Generationen(ab)folge zu suchen und sich mit diesen bewusst in Verbindung zu bringen. Dabei können wir fündig werden – auch, um die Spuren, denen wir ungewollt selbst folgen, nüchtern zu betrachten und uns ggf. bewusst abzuwenden. Genogramm- sowie Aufstellungsarbeit stellen gleichzeitig wichtige systemische Instrumente dar, um das epigenetische Erbe in seiner Struktur deutlicher zu erfassen und durch Imaginationen zu verlebendigen.

Es geht aber auch anders: durch stellvertretende Trauer. Es war der Kniefall des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt (1913–1992) am 7.12.1970 in Warschau – er selbst war ehemaliger Widerstandskämpfer im Dritten Reich –, der deutlich symbolisierte, dass der eigene aufrechte Weg für Deutsche nur durch die Trauer über das in deutschem Namen über die Welt gebrachte Leid führen kann. Der Kniefall ist die Voraussetzung, um sich selbst wirklich aufrichten zu können – eine starke und tiefe Bewegung, die den Kriegskindern und Kriegsenkeln eine neue Spur zu weisen vermag. Willy Brandt hat mit seinem Kniefall gewissermaßen stellvertretend für eine ganze Generation getrauert und damit ein spürbares Gegengewicht gegen die Verdrängungskultur gesetzt, dessen Bedeutung für das nachwachsende Deutschland, Europa und die ganze Welt gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Meine Schwester, die 3.5 Jahre älter ist als ich, erzählte mir, dass unsere Mutter in den Anfangsjahren in der Pfalz oft geweint habe. Und von meinem Vater weiß ich, dass er seine Frau bisweilen in einer Art Festhaltetherapie einfach halten musste, wenn sie sich traurig und verloren fühlte. War es Heimatverlust? Meine Mutter stammte aus Lettland. Sie war Lettlanddeutsche, und die Kindheit an den Stränden des Riga´schen Meerbusens war ihr Paradiesthema. Ihr Großvater, wohlhabender Besitzer einer Seifenfabrik, besaß auch mehrere Strandhäuser am lettischen Ostseestrand, wo meine Mutter mit ihren Schwestern und ihrem Bruder viele Wochen in den Sommerferien verbringen konnte. Dieses Paradies wurde ihr zu Beginn des Zweiten Weltkrieges durch die im Hitler-Stalin-Pakt vereinbarte Umsiedelung der Deutsch-Balten (Parole: „Heim ins Reich!“) geraubt. Damit wurde nicht nur eine jahrhundertealte deutsche Kultur im Baltikum beendet, die Menschen mussten ihre Heimat, in deren Erde seit mehreren Generationen ihre Vorfahren beerdigt waren, hinter sich lassen. Sie wurden in die neu „germanisierten“ Gebiete umgesiedelt; meine Mutter (zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt) verschlug es nach Posen.

Dort wurden sie, wie sie mir erzählte, in eine Wohnung eingewiesen, die vollkommen eingerichtet und ausgestattet war. Es war die Wohnung einer jüdischen Familie, die zuvor aus ihrem Zuhause vertrieben und wahrscheinlich in ein Konzentrationslager gebracht worden war. Am ersten Abend, so erzählte mir meine Mutter, klingelte es an der Wohnungstür, und eine ältere Frau bat darum, noch etwas Wäsche holen zu dürfen, da ihre Familie diese „draußen im Lager“, wie sie sagte, benötigte – die Familie, die zuvor in dieser Wohnung gelebt hatte.

Auch für meinen Vater, über dessen Vorfahren ich wenig weiß oder in Erfahrung bringen kann, war nach dem Krieg eine Rückkehr in heimatliche Gefilde kaum möglich. Seine Geburtsstadt in Sachsen war völlig zerstört, und man folgte den Jobmöglichkeiten, die sich einem boten. Man arrangierte sich mit den Gegebenheiten – ganz so, wie zuvor (unter anderem Vorzeichen) auch. Diese Anpassung zeugte zweifelsohne auch von einer erstaunlichen Resilienz – ebenso, wie auch die folgende Selfmade-Karriere meines Vaters. Der Neuanfang brachte aber auch Entwurzelung und Heimatlosigkeit mit sich. Beide Elternteile begannen ein neues Leben weit entfernt von den ihnen vertrauten Gefilden – mehrfach entwurzelt, aber entschlossen, sich neu zu verwurzeln.

Das epigenetische Echo in unseren Seelen ist vielstimmig: ein Stimmengewirr. Die meisten Stimmen – insbesondere die lauten – haben wir dereinst tatsächlich vernommen. Sie klingen in uns fort – ebenso, wie das Schweigen. Und oft sind die ungehörten Stimmen lauter als die, an deren Klang wir uns erinnern. Alle bilden den Resonanzboden, der unsere übernommenen Befürchtungen immer wieder zum Schwingen bringt. Wenn wir genau hinspüren, können wir bemerken, dass das, was da in uns tönt oder schweigt, in uns nur abgelegt wurde, uns eigentlich aber gar nicht gehört. Wie Fremdkörper durchformen uns diese Zuflüsterungen; keine ihrer Warnungen, Zuschreibungen oder Bewertungen entstammen eigenem tastendem Erleben. Und doch können wir uns immer wieder dabei ertappen, wie wir ihnen im vorauseilenden Gehorsam folgen. Dieser vielstimmige Resonanzboden ist der tragende Grund des Selbst, mit dem uns das Leben ausgestattet hat. Viele Menschen folgen den Spuren, die diese Stimmen ihnen weisen ihr ganzes Leben lang, einigen gelingt eine innere Emanzipation. Sie richten sich auf, wenden sich um und beginnen, eigene Spuren zu hinterlassen.

Dieses Aufrichten gelingt nicht in einem trotzigen Vorwurf. Wer glaubt, mit den eigenen Eltern noch irgendeine Rechnung offen zu haben, begibt sich selbst – unbewusst und ungewollt – in eine ausweglose innere Lage. Im Vorwurf bleiben wir klein und erwarten immer noch eine irgendwie geartete Geste, Zuwendung oder Richtigstellung durch diejenigen, die uns einst versorgten und aufzogen. In dieser Erwartung lebt letztlich eine kindliche Bedürftigkeit fort, die uns innerlich abhängig bleiben lässt und unser „Erwach(s)en“ – im Sinne eines zu eigener Kraft Heranwachsens - lähmt. Zugleich ist der Vorwurf auch ungewollt selbstüberhöhend, da er dem Gegenüber meint sagen zu dürfen, was an seinem Verhalten zu korrigieren sei – von einer angemaßten übergeordneten Position her, die eigentlich die der Eltern der Eltern ist. Wer sich dermaßen in einer verbliebenen Kritik an seinen  Eltern über diese selbst erhebt wird somit innerlich zu seinem eigenen Großvater oder zur eigenen Großmutter – eine recht verwirrende Ausgangslage für eine wirklich kraftvolle Aufrichtung in das eigene Erwach(s)en.

Es spricht zudem viel dafür, dass diese Aufrichtung bloß gelingen kann, wenn man sich an den Eltern selbst aufrichtet, indem man sich vor ihrer Lebensbewegung voller Respekt und Dankbarkeit zu „verneigen“ weiß und sich dadurch mit ihrer Lebensenergie zu verbinden versteht. Diese Bewegung kann misslingen, wenn die Eltern - durch Scham gebeugt oder abgetrennt von ihren Gefühlen und ursprünglichen Aufbruchsvisionen - selbst zurückgeworfen auf der Suche nach einer neuen inneren Stabilität, versuchten, sich selbst wieder aufzurichten. Die dabei sich artikulierende Resilienz der Kriegsgeneration wurde von den Nachwachsenden selten erkannt und kaum gewürdigt. Ihre Frage „Warum konntet ihr nicht sprechen, nicht erklären, was geschah?“ blieb als Vorwurf unbeantwortet und vielleicht sogar unbeantwortbar im Raum stehen und ließ die Nachwachsenden selbst in der erwähnten inneren Kindlichkeit zurück.

Noch gut erinnere ich mich an eine Situation, in der ich gegenüber meinem Vater selbst im Vorwurf verblieb und diesen damit vor den Kopf stieß. Er hatte einen „alten Kriegskameraden“, so nannte er ihn, zu Besuch und stellte ihn mir vor. Mir fiel in dieser Situation nichts anderes ein als – humorvoll-flapsig gemeint - zu sagen: „Ach Sie sind derjenige, mit dem mein Vater den Krieg verloren hat“. Mein Vater war konsterniert und sprach mich abends darauf an, wie unpassend er diese Bemerkung empfunden hatte. Auch darauf antwortete ich im Brustton der Berechtigung: „Wieso? Hättest Du ihn gerne gewonnen?“ – wobei ich aus einem Gedicht von Erich Kästner zitierte: „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, mit Donnerhall und Sturmgebraus, dann wäre Deutschland nicht zu retten und gliche einem Irrenhaus“, das mit dem Fazit endet: „Zum Glück gewannen wir ihn nicht!“8. Mein Vater schwieg daraufhin, und diese einzige Chance einer möglichen Erklärung verstrich ungenutzt.

Es war ein gedankenloser Affront, dem ich meinen Vater aussetzte, denn eigentlich hätte ich wissen können, dass dies nicht der Fall war. ER hätte den Krieg nicht gewinnen wollen. Anlässlich meiner eigenen Kriegsdienstverweigerung hatte mein Vater Jahre zuvor – durch die Behörde zur Stellungnahme aufgefordert – unterstützend und sehr deutlich erklärt, dass er selbst als Teilnehmer des Zweiten Weltkrieges den Krieg „kennen- und zu verabscheuen gelernt“ hätte, weshalb er die Entscheidung seines Sohnes voll und ganz unterstütze. Noch gut erinnere ich mich an die tragende Kraft, die von dieser Unterstützung ausging – es war die väterliche Zustimmung zu dem eigenen Weg, die ich an dieser Stelle deutlich spürte und die mich in meiner Entscheidung stärkte.

Wer war ich denn, dass ich seine alte Kameradschaft mit der Erinnerung an die Niederlage Deutschlands, die auch irgendwie seine eigene war, glaubte diskreditieren zu dürfen? Wie lebt es sich weiter, wenn man selbst – durch die subtile und manifeste „Gewalt der Gesellschaft“ (Eribon 2022) dazu gezwungen wurde, seine Jugend einer zutiefst inhumanen Praxis zu widmen? Wie lebt es sich weiter, wenn man auf seine eigenen Zeiten des jugendlichen Aufbruchs blickt und ernüchtert erkennen muss, wie diese einen zum unfreiwilligen Akteur eines imperialistischen Krieges hat werden lassen, an dessen Ende Millionen von Toten standen? Wie kann man sich von etwas distanzieren, das dereinst biographische Entwürfe stiftete? Wie stellte sich mein Vater 1939, 1940, 1941, 1942 … seine eigene Zukunft vor? Liebäugelte er als Offizier der Wehrmacht mit der Möglichkeit einer militärischen Karriere? Ich habe diese Fragen niemals wirklich durchdringen können, und doch berühren sie meine eigenen Wurzeln. Wir dürfen uns nicht anmaßend über unsere Eltern erheben, um klein sein zur dürfen und erwach(s)en zu können, doch dürfen wir Fragen haben, um uns an ihnen aufzurichten – zu einem zutiefst humanen Blick auf das Leben und zu einer ebensolchen Praxis!

Die Mütter und Väter, die den nach den Kriegsjahren beginnenden Babyboom (ca. 1955–1965) auslösten, waren nicht nur mental, sondern auch regional vielfach entwurzelt. Viele kehrten nicht in ihre Herkunftsregionen zurück, und 15 % immigrierten aus Teilen des früheren Deutschen Reiches (Sudetenland, Ostpreußen u.a.). „Sich neu (er)finden!“ wurde für mehr als die Hälfte der Bevölkerung zu der alles überwölbenden Aufgabe. Deutschland war bereits nach dem Zweiten Weltkrieg ein Einwanderungsland: Ca. 1/6 der Bevölkerung waren heimatlos. Heimatlosigkeit erschwerte so als ein weiterer Destabilisierungsfaktor – neben der erwähnten Kriegsscham und der Trauervermeidung durch kollektive Verdrängung – die Entwicklung einer konsonanten Identität. Diese wurde vielen der Vertriebenen auch dadurch erschwert, dass sie in den Städten und Kommunen, die sie aufnahmen, nicht nur willkommen waren – es gab Ablehnung sowie offene Ausgrenzung und sogar Rassismus (vgl. Geisler 2005). Und vielleicht ist es ja auch so, dass in den heute spürbaren Ressentiments und den vielen ausländerfeindlichen Aktionen gegenüber den nicht enden wollenden Migrationsströmen, die nach Europa kommen, sich auch eine Art Retraumatisierung derer artikuliert, denen ihre eigene innere Heimatlosigkeit auch noch nach vielen Jahrzehnten im Herzen brennt.

Meine Eltern waren heimatlos, wenn auch nicht vertrieben. Sie konnten und wollten nicht in ihre Herkunftsregion zurückkehren. Für meine Mutter war diese Möglichkeit durch die erwähnte Umsiedlung der deutschstämmigen Letten „heim ins Reich“ unwiederbringlich verloren, mein Vater trug sich nach meinem Eindruck wohl niemals wirklich mit dem Gedanken, in die sowjetische Besatzungszone, wo einer seiner beiden Brüder noch lebte, zurückzukehren. Er folgte den beruflichen Möglichkeiten, die sich ihm als jungem Familienvater mit Abitur und einer 6jährigen Erfahrung als Offizier boten.

Man kann durchaus darüber streiten, ob und in welchem Ausmaß das Elternhaus mit seiner jeweils speziellen Bindungsdichte und den fortwirkenden Traumatisierungen und Projektionen die Seelen- und Identitätsentwicklung der Nachwachsenden tatsächlich prägt. Bindungs- und Sozialisationsforschung gehen davon aus, dass die Ichentwicklung über die Internalisierung (= Verinnerlichung) von frühen Erfahrungen entscheidend geprägt – wenn auch nicht determiniert – wird. Deshalb werden wir unseren Eltern ähnlich – besonders in solchen Fällen, in denen unbewältigte Traumatisierungen sowie Beauftragungen unausgesprochen im Raum stehen. „Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen“ – so der Titel einer bekannten Veröffentlichung (Rudolf 2010), das diesen Wirkungszusammenhang in einer Romanform beschreibt.

Doch nicht alle werden innerlich zu ihren Eltern, weshalb das Prägungsbild des Sozialisationsmodells nicht als universell gültige Erklärung für jede individuelle Entwicklung herhalten kann, kennen wir doch alle Menschen, die sich trotz oder  vielleicht gerade wegen schwierigster Ausgangslagen zu eigenständigen und ichstarken Persönlichkeiten zu entwickeln vermochten und sich damit gewissermaßen von den Einflüssen ihrer Herkunftsfamilie innerlich abzugrenzen und loszusagen wussten.

Wahrscheinlich müssen wir uns die Wirkungszusammenhänge bei der Ichentwicklung mit Hilfe einer Normalverteilungskurve so vorstellen, dass für die meisten Menschen Anlage- und Umweltfaktoren in etwa die gleiche Wirkung haben, während es in den beiden äußeren Segmenten Menschen gibt, die weitgehend unbeeindruckt von Milieueinflüssen durch ihre Anlagen geprägt wurden oder – dies wäre der andere Sonderfall – überwertig durch das Erleben in ihren frühen Phasen weitgehend festgelegt wurden.

In jedem Fall kann man davon ausgehen, dass es keinen Menschen gibt, der unbeeindruckt vom äußeren Geschehen heranwächst.

Und man kann zudem auch davon ausgehen, dass es die emotionale Bindung und Bezogenheit sind, welche die kindliche Reifung zu den jeweils eigenen Kräften fördern, während emotionale Kälte (z.B. infolge eigener Entwurzelung oder eines unbearbeiteten traumatischen Erlebens) dies eher – ungewollt - verhindert. Und oft kompensieren „signifikante Andere“ (sensu Georg Herbert Mead) auf dem späteren Lebensweg einige der entbehrten – stärkenden – Erfahrungen. Es ist ein Glücksfall, wenn wir solchen Menschen begegnen.

Auch in meinem eigenen Fall ist eine mehrfache Vorsicht geboten. Ja, es spricht viel dafür, dass meine Eltern durch die Kriegszeit sehr gebeutelt, wenn nicht gar emotional angeknackst oder gar gebrochen wurden. Gleichzeitig war es ihnen – wie vielen - gelungen, sich entschlossen und resilient eine neue Lebenswelt zu erschaffen, ohne dem Verlorenen beständig nachzutrauern. Auch diese konstruktive Bewegung gehört zu dem prägenden Hintergrund meines frühen Erlebens. Heute denke ich, dass mich auch der Mut meines Vaters, weitgehend aus sich heraus eine berufliche und familiäre Perspektive zu gestalten, letztlich selbst zu einem „Selfmademan“ hat werden lassen (vgl. Rohs u.a. 2023) – eine Selbstcharakterisierung, die nichts Heroenhaftes meint, sondern eine Fähigkeit in den Blick rückt, die ich wohl meinem Vater verdanke, und von der ich erst rückblickend erkannte, wie sehr sie mich gestärkt, mich aus der empfundenen Schamkultur befreit und mir zunehmend das Selbstbewusstsein gestiftet hat, auf dem richtigen Weg zu sein. Schließlich startete ich meine berufliche Entwicklung als eine Art Quereinsteiger, nicht über die üblichen Wege aus dem „Stall“ einer wissenschaftlichen Koryphäe, bei der man in der tagtäglichen Kooperation mehr und mehr über sich und seine fachliche Eignung erfährt.

Im Rückblick ist dies eine Selbstbewegung, die mir ohne das mich tragende – innere - väterliche Vorbild wohl nur schwer geglückt wäre. Gleichzeitig war es eine ganz eigene Bewegung – weitgehend ohne „Geländer“ (Hannah Ahrendt) und über weite Strecken „in Einsamkeit und Freiheit“, wie es im akademischen Sprachgebrauch heißt, wenn man die Phase der Habilitation charakterisiert.

Man kann sich von den Spuren, die unsere Eltern in uns hinterlassen haben, nicht abwenden, ohne zu riskieren, dass diese aus dem Verborgenen heraus subtil weiterhin unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Gleichwohl kann man sich darum bemühen, ihre Echos in unseren Seelen zu erspüren, um sich von diesen zu lösen und zu den ganz eigenen Kräften vorzudringen. Erst nach dem verstehenden Durchgang durch diese Echo-Welt können wir nüchtern überprüfen, welchen Stimmen und Stimmungen wir zukünftig weiter folgen und von welchen wir uns verabschieden wollen. Erkennen hilft dabei sehr. Auch die Einblicke, welche uns die Konzepte und Modelle der angewandten Psychologie, der systemischen Beobachtertheorie sowie der Hirn- und Emotionsforschung der letzten Jahre stifteten, sind m.E. geeignet, nüchterner auf unsere Strukturbesonderheiten zu blicken. Wir haben diese „nicht bei Amazon bestellt!“, wie ich oft sage. Und wir sind auch nicht verantwortlich für das, was in unseren Seelen fortwirkt. Aber:

Wir sind sehr wohl dafür verantwortlich, ob wir uns um unsere innere Klärung kümmern oder ob wir uns der Welt weiterhin – unreflektiert - so zumuten, wie wir – zufällig – haben werden müssen. Dies ist eine Entscheidung. Und erst mit ihr öffnen sich Türen in die Freiheit!

Auch Meditation kann dieser Spurenklärung dienen; sie ist m.E. sogar der beste Weg einer täglichen Selbstfürsorge und autonomen Transformation. Im geübten Gewahrsein erkennen wir mehr und mehr die durchschaubar banalen Muster und Techniken, mit denen wir uns die Welt so zurechtlegen, wie wir dies gewohnt sind zu tun. Wir erkennen, wie wir uns lediglich in Abbildern bewegen und uns in „Sprachspielen“ (Wittgenstein) verbarrikadieren, statt einfach nach unterschiedlichen und vielfältigeren Möglichkeiten zu tasten, mehr im Konjunktiv zu leben und uns im Verzeihen und in spürender Bezogenheit zu üben.

„Respice finem!“ sagen die Lateiner, und es öffnen sich in der Tat neue Horizonte, wenn es uns gelingt, unser Leben in dem ständigen Gewahrsein der eigenen Endlichkeit immer wieder neu zu orientieren. Letztlich geht es im Kern darum, im Bewusstsein unserer Einspurungen, aber einer eigenen Spur folgend zu leben. Diese eigene Spur zeigt sich uns umso deutlicher, je bewusster wir uns mit den frühen Gewissheiten auseinandersetzen, die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmten, obgleich sie nicht uns gehören. Dabei geht es um eine bilanzierende Bewegung, in der wir uns bewusst zu den Stimmen und Stimmungen bekennen, die uns gestärkt haben und für die wir dankbar sind, aber zugleich von denen lösen, mit denen wir in einer Welt festgehalten werden, die schon lange nicht (mehr) unsere ist oder es nie war.

Blickt man auf seine Ahnenreihe zurück, so kann man einen Eindruck von den Lebenswelten, den historischen Situationen und regionalen Gegebenheiten, in denen unsere Vorfahren ihr Leben gestalteten, gewinnen. Wir kennen unsere Ahnen zwar nicht persönlich und können diese auch nicht mehr befragen, doch können wir uns in die aus ihren nüchternen Lebensdaten sprechenden Kontexte vertiefen. Fotos, Lebensberichte und Relikte können zudem Anhaltspunkte sein, um den Atem ihrer Geschichte in unserer Seele zu spüren. Dabei geht es nicht darum, das geheimnisvolle Fortwirken irgendwelcher Familienmagie zu unterstellen, vielmehr ist das, was sich überliefert, in Kommunikation verpackt. Wie, worüber und in welchem Ton unsere Vorfahren mit ihren Kindern gesprochen oder geschwiegen haben, hat deren Ausdruck, d.h. ihre Sicht auf sich selbst und die Welt mitgeprägt. Auch ihre Sorgen, Ängste und Verzweiflung oder ihre Zuversicht und Leichtigkeit wirken auf diese Weise über ihre Kinder und Kindeskinder fort. Es sind auch die Familienstile bzw. Familienkulturen, über die sich unsere eigene Einbettung in die Gesellschaft vollzieht.

Vielleicht ist dies gemeint, wenn man von der Familie als der Keimzelle der Gesellschaft spricht und damit sogleich in den Blick rückt, dass Ichentwicklung zwar eine zutiefst private bzw. persönliche, aber auch gesellschaftlich relevante Angelegenheit ist. Wir entwickeln uns nicht in den Wirkungsfeldern einer anonymen Programmierung gesellschaftlicher Institutionen, sondern in den Verletzbarkeitswelten der Fürsorge und des Schutzes, die wir benötigen. In diesen Formen eines intimen Vertrauens formen sich die emotionalen Grundstrukturen unserer Besonderheit, und wir werden zu einem Müller, einer Maier oder einem Arnold. Unser ganzes In-der-Welt-Sein formiert sich über die Grundgefühle, mit denen wir gelernt haben uns selbst und die Welt auszuhalten und zu gestalten. Dieses emotionale Ich ist wohl der älteste Teil unserer Persönlichkeit. In ihm scheinen sich epigentische Überlieferungen mit denen unseres eigenen frühen Erlebens unauflösbar zu einem Kern zu verbinden, in dem unsere Lebenskräfte verwaltet werden.

Dieser epigenetischen Prägung entspringt auch meine innere Reaktion auf die Weltbedrohung durch den Ukrainekrieg seit Februar 2022, die ich – wie viele Menschen - von Anfang an mit allergrößter Sorge verfolgte: der Sorge meines Vaters. War diese aktuelle Sorge Ausdruck einer überwertigen Kriegsangst oder Ergebnis einer nüchtern-abwägenden Betrachtung? Wie dem auch sei: Man kann nicht achtsam genug sein, wie Kurt Tucholsky (1890–1935), der am 11. März 1920, ein Jahr vor der Geburt meines Vaters, in der Zeitschrift „Weltbühne“ einen Beitrag mit dem Titel „Die Dämmerung“ veröffentlichte, der mich bewegte:
„Diese Zeit hat etwas dauerhaft Gespensterhaftes. Die Leute gehen täglich ihren Geschäften nach, machen Verordnungen und durchbrechen sie, halten Feste ab und tanzen, heiraten und lesen Bücher – aber es ist alles nicht mehr wahr. (…)
(Es) rumort in der Tiefe, und der Boden schwankt leise. Wohin führt das alles? Wir versuchen, dem gänzlich Neuen mit den alten Mitteln, den alten Witzchen beizukommen. Und werden seiner nicht Herr. Es verfängt alles nicht: Humor nicht. Satire nicht: offener Kampf, Gewalt, Propaganda – die Pfeile fallen matt zu Boden. Wohin führt das alles? (…)
Töricht, die Zerfallssymptome zu leugnen. Eine Welt wankt, und ihr haltet an den alten Vorstellungen fest und wollt euch einreden, sie seien so nötig und natürlich wie die Sonne. (…)
Lange Reden und dicke Bücher schaffen es nicht mehr; ungeduldig steht etwas an dem großen Tor und klopft und klopft. Und es wird ihm wohl eines Tages aufgetan werden müssen. (…)
Das bürgerliche Zeitalter ist dahin. Was jetzt kommt weiß niemand. Manche ahnen es dumpf und werden verlacht. (…) Was sich da träge gegeneinanderschiebt, gereizt sich anknurrt und tobend aufeinander losschlägt: Im Tiefsten ist es der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Alt und Neu,  zwischen dem, was war, und dem, was sein wird. (…)
Es scheint wieder eine der Perioden gekommen zu sein, wo ganz von vorne angefangen werden wird, wo wieder der Mensch auf der Scholle steht und Gräser, Tiere und sich selbst mit grenzenlosem Erstaunen betrachtet. (…)
Wohin treiben wir? Wir lenken schon lange nicht mehr, bestimmen nicht. Ein Lügner, wer´s glaubt.
Es dämmert, und wir wissen nicht, was das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung“.9

Wie werden wir den Fragen unserer Nachkommen dereinst standhalten können, wenn diese uns nach unserer gelebten Verantwortung fragen? Werden wir uns mit denselben Formulierungen herausreden oder in ein kollektives Schweigen verfallen, wie dies unsere Eltern taten, tuen „mussten“, weil auch sie nicht wussten, wie sie sich dem aufkeimenden Totalitarismus entgegenstemmen sollten? Werden auch wir vor der Geschichte dereinst versagt haben? Diese Gedanken treiben mich seit den beginnenden geopolitischen Verschiebungen und den militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine und in Israel und Palästina um; jeder Morgen beginnt seitdem mit einem sorgenvollen Griff nach dem Handy, um die News zu checken. Wir beobachten die Bedrohung – hoffend, dass diese nicht unser eigenes Leben und das unserer Kinder und Enkelkinder betreffen werde. Doch reicht dies? Gibt es andere Optionen, sich auch und gerade als alternder Mensch für Demokratie und Friedensicherung, aber auch für Ausgleich, internationale Hilfe und Zusammenarbeit einzusetzen? 

Anfänge

„People don´t choose
who they are!“
(Lelord)

„Eine Lebensgeschichte
besteht aus vielen Kontingenzen
und wenigen bewusst entschiedenen
Weichenstellungen“
(Habermas 2024, S.27).

Das bewusste Erleben hat einen frühen Anfang. Dieser setzt sich aus Erinnerungen zusammen, von denen man später nicht mehr genau zu sagen weiß, ob diese eigenes Erleben oder bloß übernommene Erzählungen ausdrücken. Diese frühen Bilder sind meist ungenau. Sie geben Stimmungen und Momentaufnahmen wieder, selten erzählen sie ganze Episoden. Diese Stimmungsbilder sind gleichwohl prägend. In ihnen wirken bereits die Farbtöne zusammen, mit denen wir unsere Palette früh bestückt wurde, um unsere Lebenserinnerungen zu malen. Manche Menschen verfügen dabei über viele bunte Farben, andere nur über wenige Grautöne. Sie malen auch die Höhepunkte und Glücksmomente ihres Lebens mit den Farben, mit denen sie dereinst ausgestattet wurden.

Es spricht viel dafür, dass die frühen Erfahrungen eine prägende, wenn auch nicht in jedem Fall determinierende Wirkung für das spätere Leben haben. Für manche Menschen geht auch erst in ihrem späteren Leben „die Sonne auf“. Dies ist aber meist bloß dann der Fall, wenn gelernte Gemütseintrübungen durchschaut, relativiert und aufgelöst werden, indem diese Menschen sich von den verinnerlichten Dämonen aus ihren Anfängen haben befreien und diese verabschieden können. Bisweilen gelingt eine solche Selbstbildung und Selbstbefreiung auch, wenn man auf einen Menschen trifft, dessen Liebe es versteht, die anderen – bislang wenig spürbaren - Seiten an einem selbst „heraus zu lieben“, wie die Zürcher Psychologin Verena Kast dies so schön ausdrückte (Kast 1990, S.15). Plötzlich fühlt man sich in ein neues Licht getaucht, spürt zaghaft die bis dato ungeahnten inneren Möglichkeiten und kann beginnen – nach anfänglichem Selbstzweifel (z.B. „Wenn man mir bloß mal nicht auf die Schliche kommt!“) -, sich behutsam zu transformieren statt in den Ausdrucksformen zu verharren, die einem in die Wiege gelegt wurden. Wo dies nicht gelingt, endet der Aufbruch in die relative Freiheit, die uns möglich wäre, bevor er begonnen hat – ein früher Tod des Selbst, bevor es geboren wurde.

Hinter jeder Resilienz, steckt häufig – nicht immer - eine längere Selbst(auf)klärung und Selbstbildung oder gar Leidenserfahrung. Insbesondere das Vertrauen in die eignen Kräfte ist nicht leicht zu haben, wenn bereits die kindliche Suche zumeist ins Leere lief oder Belobigungen aus falschen Motiven oder an Bedingungen geknüpft erteilt wurden. Die meisten Eltern lieben ihre Kinder bedingungslos, aber schon die Frage „Lieben sie diese so, wie sie sind?“ oder „Lieben sie diese so, wie sie sich selbst ihre Kinder wünschen?“ lässt uns erneut in eine kritische Prüfung unserer erinnerten Idealisierungen zurückfallen. Galt der freudige Blick wirklich uns, oder dienten wir bloß als Spiegel? Konnten wir uns im Blick von Vater und Mutter selbst erkennen, oder erkannten wir in ihren Augen bloß ihre eigene Sehnsucht?

Die Anfänge des eigenen Lebens sind uns meist bloß über Kindheits-Fotos und Erzählungen von Eltern oder Großeltern zugänglich. Dieser Zugang ist kein unmittelbarer, sondern ein mittelbarer: Alles, was wir auf diesem Wege hören, sind die Erinnerungen der uns nahen Personen, die deren eigene Lesarten und Kommentierungen des Gewesenen wiedergeben, aber selten einen wirklichen Zugang zu den uns eigenen Kindheitsgefühlen zu eröffnen vermögen. So entstehen die Idealisierungskollagen, auf die viele Menschen zurückblicken, wenn sie von ihrer Kindheit erzählen. Ihre eigene Erinnerung ist durch die überlieferten Lesarten selektiv, und bisweilen drückt sich in diesen Erinnerungen auch die subtile Bannbotschaft aus: „Du sollst nicht merken!“ (Miller 1983). Wie immer dem auch sei:

Unsere Anfänge sind uns unbekannt; sie sind auch durch intensivste Erinnerungsarbeit kaum je vollständig zu rekonstruieren.

Und doch wirkt das Erlebte in uns fort, und wir können versuchen, ihm durch intensives Nachspüren näher zu kommen. In der angewandten Psychologie ist es die Inner-Child-Theory, die uns dabei helfen kann, den verborgenen Gefühlen, die in uns wirken, auf die Spur zu kommen. Der Vorschlag ist, sich dem eigenen „inneren Kind“ zuzuwenden und es in seinen ursprünglichen Bedürfnissen zu spüren. Sind es übermütige, fröhliche und spielerische sowie lebensfrohe Tendenzen, die wir tief verborgen in uns tragen, oder verhaltene, eher Depression und Selbsteinschränkung nährende Energien? Werden wir durch ein deutliches Ja zum Leben getragen, oder bremsen uns Zweifel und Sorgen? Streben wir nach vorne oder trauern wir Vergangenem und Versäumtem nach oder versinken gar in Selbstvorwürfen? In all diesen emotionalen Tendenzen wirken – so die Theorie vom inneren Kind (vgl. u.a. Stahl 2016) – frühe Einspurungen fort. Diese stiften uns die Einfärbungen, mit denen wir unser aktuelles Leben zu konstruieren bzw. auszumalen vermögen: als Fest, als ängstigende Gefährdung, als immer wieder ambivalente Rekonstellierung10 oder als dauernden Abschied.

Für eine Selbstklärung ist es deshalb hilfreich, wenn wir uns die Zeit nehmen, den Einfärbungen unseres Weltblickes nachzuspüren und frühe Stimmungen zu identifizieren, denen wir ausgesetzt gewesen sind. Dabei stoßen wir nicht auf Kausal- oder gar Schuldzusammenhänge, vielmehr können wir uns selbst näherkommen, indem wir beobachten und zu verstehen lernen, welche Situationen wir erlebt, ertragen oder gar überlebt haben. Wir können zugleich erkennen, mit welcher Resilienz wir als Kind schwierigere Lagen durchlebt haben, wie wir z.B. – bisweilen bis an die Grenzen unseres Vermögens – versucht haben, den anderen zu helfen, sie aufzuheitern und ihnen ihre Wünsche von den Augen abzulesen, und wie wir schließlich mehr und mehr in einer eigenen Bewegung erstarkten. Auch in dieser eigenen Bewegung werden wir von Kräften getragen, die sich in uns entwickeln konnten – häufig in ersten mutigen Ansätzen, im günstigen Fall unterstützt von den Reaktionen „signifikanter Anderer“ (vgl. Mead 1978, S.1878ff). Diese begannen – in oft überraschender Weise - an uns zu glauben, als wir in unserem Selbstvertrauen selbst noch wenig gestärkt waren.

Es ist die Kraft der Resilienz, d.h. die Fähigkeit aus dem Schicksal unseres „Geworfenseins“ (Heidegger 1993) in der Welt mit all ihren historischen, gesellschaftlichen und familiären Zufälligkeiten, unsere eigene Geschichte zu entwerfen und diese bewusst zu gestalten. Diese folgt keiner Vorlage, obgleich Vorbilder eine durchaus wichtige Rolle spielen. In den frühen Stadien unserer Entwicklung suchen wir diese nicht aus, auch im späteren Leben verfügen wir nicht sicher über das, was uns begegnet. Oft geraten wir in Situationen, in denen wir nicht wissen, was zu tun ist, die uns überfordern oder gar in biografische Krisen stoßen – man denke nur an den „biografischen Supergau“, den der Zusammenbruch der ehemaligen DDR für viele Menschen im östlichen Deutschland darstellte. Diese Krisen sind Phasen, in denen wir das über uns Hereinbrechende bzw. Neue nicht mehr mit unseren „bewährten“ Erfahrungen bewältigen können. Alles scheint nochmals „auf Anfang“ gestellt. Wir gleiten in Unsicherheiten und grundlegende Selbstzweifel, die wir sicher glaubten, bereits hinter uns gelassen zu haben. Spätestens in solchen Lagen sind wir auf unsere eigenen Kräfte zurückgeworfen, und es erweist sich, wie sicher verankert unsere Resilienz tatsächlich ist.

Die frühen Suchbewegungen führen uns ganz allmählich aus der verspielten Träumerei zu ersten Gedanken und Konzepten über uns selbst und die Welt, und aus diesen frühen Geschichten zu Absichten und Vorhaben. Irgendwann neigt sich die eigene Biografie von der Kontingenz zur Konsistenz. Dies bedeutet, dass beides für unsere Anfänge wichtig ist: das kontingente – zufällige - Erleben ebenso, wie die allmählich reifende Selbstgewissheit. Damit diese Selbstfindung gelingen kann, sind Erfolge bzw. Selbstwirksamkeitserleben notwendig.

Menschen benötigen Resonanz, um ihre innere Konsonanz öffnen, überwinden und gestalten zu können.

Diese beginnt mit dem erkennenden Blick der Eltern oder anderer relevanter Bezugspersonen; später schreiten wir vor dem Hintergrund privater und beruflicher Resonanzen voran. Dabei durchqueren wir auch dissonante Phasen der Zurückweisung, der Ablehnung und des Verlustes oder Scheiterns. Und in dieser Gemengelage von Resonanz und Dissonanz gestaltet sich allmählich unsere eigene Biographie. Nicht wir allein gestalten diese, sondern auch die anderen. Auch für die persönliche Geschichte gilt deshalb der von Jean Paul Sartre überlieferte Satz, dass das „Problem“ der Geschichte nicht sei, das wir sie machen, sondern dass die anderen sie auch machen.

Was hätte aus uns werden können, wenn wir – wie unsere Eltern – in den 1920er Jahren aufgewachsen wären? Oder: Welche biografischen Möglichkeiten hätten wir mit unseren inneren Kräften tatsächlich – selbst - aus uns herausleben können, wenn wir in Eritrea, Vietnam oder in der Ukraine hätten heranwachsen müssen? Solche Gedanken führen uns unweigerlich zu der Einsicht, dass wir auch unser biographisches Selbst nicht nur – und vielleicht noch nicht einmal in erster Linie – uns selbst verdanken, sondern dem historischen, kulturellen und sozioökonomischen Kontext, den wir durchleben – ein in den Kulturen, die den Individualismus und das Selbst zelebrieren (vgl. Rotthaus 2021), nicht wirklich naheliegender Gedanke.

Mein eigener Weg begann in den frühem 1950er Jahren – 7.5 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Zwar schwiegen die Waffen, doch waren die Wunden, die der Krieg den Menschen und Städten zugefügt hatte, noch nicht verheilt. Ich erinnere mich daran, dass der sonntägliche Kirchgang der Familie uns durch Straßen führte, in denen noch vereinzelte Trümmergrundstücke den Weg säumten. Die meisten Häuser waren bereits wieder aufgebaut, doch konnte man auch an den Kellergeschoßen noch die Hinweise auf die Bunker lesen, in denen die Anwohner bei Fliegerangriffen Schutz finden konnten. Solche Angriffe gab es in den letzten Kriegsjahren in Kaiserslautern viele; schließlich erkoren die Amerikaner gerade diese Stadt zu dem Ort, in dessen Nähe sie ihren großen Flughafen (Ramstein) errichten wollten. Dafür schufen sie am Stadtrand eine eigene kleine amerikanische Stadt: Vogelweh.

Die Trümmergrundstücke waren durch Plakatwände, die man auf den Kellergeschoßen errichtet hatte, optisch aufgehübscht und wohl auch gesichert. Als Kinder fanden wir aber immer Zugänge, um in ihren Geländen zu spielen. Dies war nicht ungefährlich, da bisweilen Mauerreste herabfallen und uns gefährden konnten. Mit den Jahren verschwanden solche Grundstücke aus dem Stadtbild; sie wichen dem Wiederaufbau. Erst nach dem Mauerfall sah ich solche häuserlosen Straßenzeilen wieder: in Magdeburg, am 3.10.1990, wo ich zufällig den Tag des Inkrafttretens des Einigungsvertrages erlebte. Überhaupt ist dieser Abend nicht nur in angenehmer Erinnerung. Es wurden Deutschland-Partys gefeiert, und durch die Stadt fuhren Autos, aus denen große schwarz-rot-goldene Fahnen geschwungen wurden – diese nationalistischen Ausbrüche stimmten mich nachdenklich. Irgendwie war das Nationale nicht mein Ding. Ich war im Herzen Internationalist – nicht erst nach meiner Zeit in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (1984-1989), aber seit dieser Zeit sehr ausgeprägt. Doch dazu später mehr.

Bleiben wir bei dem diffusen Zusammenspiel zwischen biografischer Kontingenz und biografischer Konsistenz in den Prozessen des Heranwachsens. Es wäre sicherlich zu einseitig, das Fortwirken der elterlichen Kriegsscham und deren religiöse Übermäntelung als alleinige Ursache für die gespürte Resonanzarmut in der Herkunftsfamilie zu fokussieren, obgleich diese bis in das Erwachsenenalter hinein deutlich spürbar war. Wir wussten bzw. besser: spürten nicht, wer wir waren oder sein durften. Das zusammengebrochene Herrenmenschentum der Nazi-Ära wirkte unterschwellig fort. Nur die Begründung der eigenen Auserwählung wurde verändert. Jetzt war es das gottgefällige Leben, welches uns – so die gespürte Atmosphäre – zu etwas Besonderem (im Vergleich zu den anderen Menschen) machte. Wir waren gut. Andere, z.B. Menschen, die sich scheiden ließen oder einer anderen Glaubensrichtung folgten, waren das nicht oder zumindest „anders“. Schon früh lernte ich die Lektion, dass ich nicht einfach sicher und geliebt umfangen war, weil es mich gab, sondern umso spürbarer, je mehr ich dem Bild des Guten und Besonderen sowie Erfolgreichen auch zu entsprechen wusste. Als Kind spürte ich diese Bedingtheit, bewusst wurde sie mir erst als Erwachsenem.

Menschen leben aus ihrer Erinnerung heraus. Sie sind Erinnerungswesen. Dies heißt nicht allein, dass Menschen sich über ihren Werdegang darstellen, und auch andere nach Bildungsabschlüssen, beruflichen Stationen und Erfahrungen bewerten und einordnen. „Erinnerungswesen“ verweist auch auf den Sachverhalt, dass Wahrnehmen ganz offensichtlich ein Sich-Erinnern ist, wie ich in meinem Buch „Seit wann haben Sie das?“ (Arnold 2019a) detailliert untersucht habe. Aktuelle Gegebenheiten deuten wir durch die Brille unserer Erfahrungen, und vieles, was uns im Leben widerfährt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Ausdruck einer selektiven Furcht, die subtil genau das zutage fördert, was sie so dringlich zu vermeiden sucht. So „widerfahren“ uns auch viele Enttäuschungen oder Niederlagen nicht nur, wir haben diese vielmehr oft auch (mit) herbei-befürchtet, und werden z.B. tatsächlich deshalb verlassen, weil wir ja selbst noch niemals wirklich glauben konnten, dass man mit uns gerne zusammen ist.

Es ist eine letztlich tragische Verwechslung, wenn wir im jeweils aktuellen Kontext die Ursachen für die in uns schon früh angebahnten Stimmungen und Irritationen glauben finden zu können. Nur mit einiger Übung kann es gelingen, erlebte Dissonanz zum Anlass zu nehmen, um diese in der eigenen Seele zu bearbeiten und – endlich! – hinter sich zu lassen (idealerweise in tiefer Dankbarkeit gegenüber dem störenden Erleben, endlich auf das eigentliche Reifungsthema der eigenen Seele gestoßen worden zu sein). Diese innere Bewegung markiert m.E. eine zentrale Dimension dessen, worum es einer Persönlichkeitsbildung, wie sie Wilhelm von Humboldt (1776-1835) anmahnte, gehen kann (vgl. Arnold/ Brater 2025).

Meistens jedoch bleiben wir „im Irrgarten der Gefühle“ (Bergh 2016) hängen, ohne dass es uns auffällt, wie wir das Heute dafür missbrauchen, dem Gestern treu bleiben zu können.

So treffen wir Entscheidungen, erleben Konflikte, trennen und verbinden uns, weil wir irrtümlich der Auffassung sind, die eigentlichen Faktoren, die unser Leben beengen, im aktuellen Außen wirksam bekämpfen zu können – nur, um dann erstaunt festzustellen, dass die alte Stimmung immer noch in uns keimt und beständig darauf lauert, auch die neuen Kontexte zu kontaminieren und zu durchformen. Die eigentlichen Vorlagen für unser Denken, Fühlen und Handeln bleiben uns meist verborgen, wenn wir uns in Abgrenzung, Vorwurf und Verzweiflung wiederfinden. Sie bleiben vorreflexiv, und es fehlen auch die Begriffe und Werkzeuge, um den Kontaminierungen des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns nachzuspüren und diese auf den Begriff bringen zu können. Diese werden uns weder in Elternhaus und Schule, noch durch die Bewusstseinskultur des gesellschaftlichen und kulturellen Umfeldes wirklich angeboten, eröffnet oder gar eingeübt. Erst, wenn wir im späteren Leben rückblickend feststellen müssen, wie sich in ganz unterschiedlichen Lebenslagen in uns ähnliche Eindrücke und Handlungsimpulse immer wieder Geltung verschafft haben, werden wir vielleicht nachdenklich und beginnen, nach neuen Möglichkeiten – jenseits der Kontaminierungen unseres Selbst – zu tasten. Dieses ernüchternde Wiederholungserleben kann die Tür zu einer Bewusstheit öffnen, die uns neu und anders, stärker bezogen als tendenziell ichsynton11 sein lässt.

Tendenziell ichsyntone Menschen sind meist nicht in der Lage, die aktuellen Gegebenheiten ihrer jeweiligen Lebenssituationen „nüchtern“ wahrzunehmen und „angemessen“ auf diese zu reagieren. In das, was ihnen der Fall zu sein scheint, mischen sich subtil diffuse Gefühle, Selbstkonzepte und Ängste ein, die letztlich auch darüber bestimmen, wie „selbstwirksam“ sie sich erleben und wie zuversichtlich, geborgen und berechtigt sie sich zu leben trauen. Historische Gegebenheiten, gesellschaftliche Strömungen, Milieuerfahrungen sowie Berichte, Verdrängungen und Verschwiegenheiten der Eltern legen Deutungsmuster und Interpretationsfolien nahe, an denen das reifende Selbst sich emporzuranken beginnt. Dabei werden wir nicht zu den Menschen, die wir sein könnten, sondern folgen in unserem Selbstausdruck mit unterschiedlicher Intensität auch den Einflüsterungen, denen wir ausgesetzt sind. Diese prägen uns nicht so und nicht anders, sie stellen aber eine zähe Substanz dar, die uns trägt und auch zu dem- oder derjenigen werden lässt, die wir sind – getragen und gefangen in überliefertem Seelenmaterial, welches uns beständig ablenkt von dem, was ist oder gar sein könnte (vgl. Arnold 2013; 2019b).

Die Frage, inwieweit ichsyntone Persönlichkeiten sich bevorzugt in Gesellschaften und Milieus entwickeln, in denen eine kollektive Infragestellung und Unsicherheit fortwirken, ist bislang ungeklärt, aber auch unerörtert. Zudem hat sich die Psychologie seit den 1970er Jahren weitgehend von Ganzheitskonzepten gelöst und die Frage nach dem menschlichen Bewusstsein, seiner Entstehung sowie den Möglichkeiten seiner Veränderung oder gar Erweiterung weitgehend ausgeklammert. Gleichzeitig denaturierte die Psychologie – ungewollt - zu einer Reparaturdisziplin, die nach Konzepten zur Wiedergewinnung oder Sicherung der Anpassung des Subjektes an die jeweiligen Gegebenheiten und Herausforderungen tastet, ohne sich der Frage, „was Menschsein eigentlich bedeutet“ (Martin Buber) bzw. bedeuten kann, wirklich zu widmen. Ihr Konzept der seelischen Gesundheit entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als substanzlos, da es alle vor- oder übergeordnete Bedingungsrahmen, in denen das Selbst des Menschen sich entwickeln und Tritt fassen kann, ausklammert.

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8 Das Gedicht von Erich Kästner trägt den Titel „Die andere Möglichkeit“ (https://www.deutschelyrik.de/die-andere-moeglichkeit-1209.html

9 Zit. nach:  https://www.textlog.de/tucholsky/glossen-essays/daemmerung  (Aufruf am 13.2.2024)

10 Der Begriff der Rekonstellierung verweist auf die aktive Rolle, die die Menschen bei dem, was sie wahrzunehmen meinen, spielen: Sie fühlen und deuten das ihnen Begegnende mithilfe der in ihnen grundgelegten Emotions- und Deutungsmuster, interpretieren das Geschehen unvermeidbar selektiv – nicht selten mit dem Effekt, dass sich – in ihrem subjektiven Erleben – genau das wiederholt, was sie befürchtet haben.   

11 „Ichsynthon“ beschreibt die Strukturbesonderheit einer Persönlichkeit, bei der jemand seine Gedanken und Gefühle als zentrale – unerschütterliche - Bestandteile seines Ichs, d.h. nicht als mögliche – ganz eigene – Orientierungs- und Bewertungsimpulse erlebt. Ichsyntone Menschen neigen deshalb dazu, eigene Gewissheiten nicht zu hinterfragen oder sich offen und flexibel zu vergewissern, ob und inwieweit die eigenen Eindrücke „angemessen“ sind oder den – unterstellten – Motiven des jeweiligen Gegenübers tatsächlich entsprechen. Die eigenen Wahrnehmungs- und Beurteilungsroutinen werden von ichsyntonen Menschen nicht in den Blick genommen, ihr gestörter Blick findet vielmehr beständig Situationen im Außen, die nicht ok, also störend sind.

Literatur