Das Weihnachts-Stockholm-Syndrom

Im Jahre 1973 wurde in Stockholm eine Bank überfallen. Es lief nicht alles so, wie die Bankräuber sich das dachten, so dass sie ein paar Geiseln nahmen, die sie mehrere Tage gefangen hielten. Zur Überraschung der meisten Beobachter identifizierten sich die Geiseln mit den Menschen, die sie der Freiheit beraubten. Seither nennt man Situationen, in denen sich Opfer mit ihren Peinigern identifizieren, „Stockholm-Syndrom“.


Die aktuelle, vorweihnachtliche Corona-Lage scheint mir einige Merkmale aufzuweisen, die diesem Muster folgen: Seit etlichen Tagen fordern Epidemiologen, Virologen, Lehrer, Frau Merkel und Wirtschaftswissenschaftler einen schnellen, härteren Lockdown. Bei den bundesdeutschen Landesfürsten, die über die Macht verfügen, dies durchzusetzen, treffen diese Forderungen auf taube Ohren. Erst nach Weihnachten sollen härtere Maßnahmen – trotz langsam wieder sichtbarem exponentiellen Wachstums der Corona-Infizierten und -Toten – erfolgen. Das Weihnachtsfest soll geschützt werden! (Besonders beeindruckend, wenn Armin Laschet, diese rheinische Frohnatur, darüber spricht.)


Wie ist diese – wie ich meine, wenig rationale – Entscheidung, vor allem aber deren Begründung zu erklären?


Die erste, naheliegende Erklärung betrifft die Wirtschaft: Man will dem Handel nicht das Weihnachtsgeschäft versauen.


Hm. Sicher ein Argument, aber, wenn wir dann bei 50.000 (jetzt sind es schon 30.000, kann also nicht mehr lange dauern) Infizierten am Tag und mehreren Tausend Toten täglich angelangt sind, wird sich keiner mehr um Weihnachtsgeschenke scheren...


Und natürlich: Die Schulen müssen offenbleiben, weil sonst die Schüler für den Rest ihres Lebens geschädigt sind.


Ehrlich. Ich habe selten ein schwachsinnigeres Argument gehört. Als ob ein Monat mehr Ferien die Bildung der Schüler auf Null fahren würde. Ich kenne etliche Leute, die im Krieg mit 17 ihr Notabitur machen mussten, um die Flak gegen britische Bomber bedienen zu können, und aus denen international hoch angesehene Wissenschaftler oder auch Manager oder Politiker geworden sind – um nur ein paar mir persönlich bekannte Beispiele anzuführen. Allerdings, das muss ich einräumen: Zwei Kurzschuljahre haben meinen Bildungslebenslauf total ruiniert. Was hätte aus mir werden können, wenn ich wirklich 13 volle Jahre auf der Schulbank verbracht hätte?


Doch sehen Lehrer die Bedeutung von ein paar Tagen Schulschließung etwas anders. Zumindest die Intelligenteren unter ihnen wissen, dass das, was man inhaltlich in der Schule lernt, nicht so wichtig ist. Die Funktion der Schule besteht ja zum ersten darin, die Kinder von der Straße zu holen, wenn die Eltern arbeiten müssen, und zum, zweiten künftigen Angestellten Disziplin (von Lat. discipulus, Schüler) beizubringen, d.h. Unterordnung unter Hierarchen zu lernen und die Fähigkeit, sich mit Peers zu arrangieren.


Dass die Betreuung der Kinder ein Problem ist, wenn die Eltern arbeiten sollen, ist offensichtlich, aber das ist vor Weihnachten nicht anders als nach Weihnachten.


Doch all diese Argumente sind es nicht, die wirklich die öffentliche politische Debatte bestimmen. Stattdessen reden alle davon, wie wichtig es sei, Weihnachten für die Familie zu retten... (danach kommt dann sowieso der harte Lockdown mit fast all den auch vor Weihnachten zu befürchtenden sozialen Konsequenzen; Vorteil für den Handel: Man kann schlechter umtauschen).


Jetzt kommt das Stockholm-Syndrom ins Spiel.


Eigentlich kann man ja nur fragen: Spinnen die alle? Weihnachten ist doch so ziemlich das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann. Alle leiden unter Weihnachten: Angefangen bei dem Zwang Geld für Geschenke, die sowieso immer enttäuschen, weil es die falschen sind, auszugeben, der Notwendigkeit Verwandte zu treffen, denen man das ganze Jahr erfolgreich aus dem Wege gehen konnte, so zu tun, als ob man vor Freude überschäumt, all den aktualisierten Kränkungen aus der Vergangenheit, der ernüchternden Erkenntnis der miesen Qualität der Beziehungen zueinander, den unvermeidlichen Streitereien darüber, wer damals, als alle gemeinsam im Urlaub waren, den fürchterlichen Streit angefangen hat und warum der Erika noch nie die Helmut verstanden hat (und umgekehrt), welches Kind von wem mehr geliebt wurde, und warum das alles ja gar nicht stimmt, sondern ganz anders war...  Hinzu kommt die Arbeit mit dem Gänsebraten, der nicht so gelingt, wie im Kochbuch versprochen und die ganze Wohnung einräuchert (Aerosole) und auf Tage einen unerträglichen Gestank verbreitet. Ein emotionaler Schnellkochtopf – all das ist nur unter Konsum von zu viel Fett und Alkohol auszuhalten, was dann die unter der Belastung durch Corona-Patienten schon überforderten Notaufnahmen der örtlichen Kliniken ins Spiel bringt... Und es ist nicht zufällig, dass die psychiatrischen Kliniken sich in den Weihnachtstagen und unmittelbar danach mit Patienten füllen. Dort werden sie dann von Menschen empfangen, die klaglos freundlich mit ihnen umgehen, obwohl (oder weil?) sie selbst – wie viele andere – nicht Weihachten feiern dürfen (müssen?).


Wie kann also erklärt werden, dass alle so fasziniert von Weihnachten sind und sich gefühlsduselig gebende Politiker sich als Vormund des Christkinds gerieren?


Das Stockholm-Syndrom.


Eigentlich leiden die meisten Menschen unter Weihnachten. Aber sie identifizieren sich mit dem Quäler, der sie in Geiselhaft nimmt: der Konvention, die verlangt, dass sich die ganze Familie harmonisch unter einem kitschig geschmückten Tannenbaum vereint und aneinander freut. So ein Quatsch – denn das könnte man ja, wenn man wollte, auch ohne Weihnachten das ganze Jahr über tun und macht es aus guten Gründen nicht.


Das Stockholm-Syndrom, kein Zweifel.