Der verweigerte Händedruck

Bodo Ramelow ist in Thüringen zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Als ihm Bernd Höcke gratulieren wollte, hat er ihm die Hand verweigert. Das hat er offenbar nicht aus Angst vor dem Corona-Virus getan. Auf den ersten Blick ist dies ein Verstoß gegen die Konventionen gutbürgerlichen Verhaltens. Ich finde, es war eine gute und sinnvolle Geste, durch die öffentlich Herrn Höcke die Achtung verweigert wurde. Es zeigt, dass er von Herrn Ramelow als eine Person betrachtet wird, dessen Verhalten außerhalb der bürgerlichen Normen - hier der demokratischen Ordnung - liegt.


Um die Sinnhaftigkeit eines solchen Verhaltens zu begründen, bedarf es einiger theoretischer Bemerkungen.


Moral, so lässt sich sagen, ist eine Regel, nach der in einer Gesellschaft Achtung erwiesen oder verweigert wird. Wer sich unmoralisch verhält, dem wird Verachtung gezeigt. Eng verbunden damit ist auch das Konzept der Ehre. Wer sich gegen basale Verhaltens-Erwartungen eines sozialen Systems vergeht, indem er sich nicht an die als "selbstverständlich" definierten Spielregeln des Anstands hält, der wird durch Mißachtung und Ehrverlust bestraft. Deswegen gibt es z.B. bei Berufsständen wie Ärzten oder Rechtsanwälten sogenannte "Ehrengerichte", und Straftätern werden die "bürgerlichen Ehrenrechte" wie z.B. das Wahlrecht entzogen.


Dies ist eine Methode, mit deren Hilfe sich bestimmte Regeln des Zusammenlebens reproduzieren bzw. erhalten. Wer die gefährdet, muß mit Mißachtung rechnen.


Natürlich ist das ein Mechanismus, der individuelle Freiheiten einschränkt, aber das tun soziale Regeln und Normen generell. Wer sich gegen diese Regeln vergeht, wird ausgegrenzt - es sei denn, ihm gelingt, diese Regeln zu verändern (was manchmal ja sinnvoll ist, aber der Versuch ist immer riskant).


Und solche Veränderungen - die der demokratischen Grundordnung - sind im Moment Ziel aller populistischen Parteien - von Donald Trump bis zur AfD. Ihnen Verachtung zu zeigen (!), kann als Immunreaktion des Systems bezeichnet werden. Der Aufschrei nach der Wahl Kämmerers zum thüringischen Ministerpräsidenten durch CDU, FDP und AfD war ein Beispiel für solch eine Immunreaktion. Die Verschiebung der Regeln des "Anstands" ist eines der Ziele der AfD bzw. der Populisten (wo immer sie agieren). Deswegen wird von ihnen auch so gegen "political correctness" gekämpft, was im Klartext nichts anderes bedeutet: Sie kämpfen gegen basale Regeln einer bestimmten Moral (über die man ja durchaus diskutieren kann).


Man muß Herrn Höcke nicht wirklich verachten - und jeden einzelnen AfD-Wähler natürlich auch nicht. Authentizität ist nicht (!) gefragt. Denn es handelt sich bei der gezeigten Verachtung nicht um psychische Prozesse (niemand muss irgendwen verachten). Es handelt sich um soziale Prozesse. Es reicht, Verachtungskommunikation - wie beispielhaft im verweigerten Händedruck vorexerziert. Dies ist - im Unterschied zum Schutz vor dem Corona-Virus - keine Frage der köperlichen Hygiene, sondern eine der sozialen Hygiene.


(Ob das für Politiker, die ihr Wählerpotenzial erweitern wollen, die richtige Strategie ist, weiß ich allerdings nicht; Herr Ramelow hat jedenfalls mit Herrn Höcke trotz verweigerten Handschlags geredet; reden sollte man auch mit Leuten, die es verdienen, dass man ihnen Verachtung zeigt - wenn sie dazu denn überhaupt bereit sind -, denn Kommunikationsabbruch ist stets fatal und blöd, sei es im privaten oder öffentlichen Bereich, weil er jede Änderungsmöglichkeit verhindert.)