Die Ohnmacht der Taliban

Aus (m)einer systemtheoretischen Perspektive scheint es ziemlich naiv anzunehmen, die Taliban hätten in Afghanistan die Macht übernommen. Klar, da laufen jetzt viele bärtige Männer mit dekorativ präsentierten Kalaschnikows durch die Straßen von Kabul, Kandahar und Herat, aber das ist ja kein Indiz dafür, dass sie die Macht hätten. Ganz im Gegenteil: Wer Gewalt anwendet, beweist damit, dass er nicht die Macht hat. Denn Macht funktioniert ja gerade dadurch, dass die betroffenen Akteure sich einer Obrigkeit unterwerfen, ohne dass dazu Macht oder Zwang angewendet werden müsste.


Die deutliche Drohung mit Gewaltanwendung kann für eine gewisse Zeit „Ruhe und Ordnung“ (=„Friedhofsruhe“) sorgen, aber nicht auf Dauer, das heißt, der Widerstand derer, die nicht mit den Taliban und ihrer Politik einverstanden sind, dürfte zunächst heimlich, dann aber irgendwann öffentlich groß und größer werden.


Hinzu kommt, dass sich die Lebenssituation der Bevölkerung rasch verschlechtern dürfte, vor allem, wenn tatsächlich die Frauen wieder ins Haus und in die Familie verbannt würden. Keine Volkswirtschaft kann heute reussieren, wenn die Hälfte der potenziell produktiven Bevölkerung ausgeschaltet wird. Das ist so, als würde man bei der Olympiade Sprinter mit einem hochgebundenen Bein an den Start schicken.


Was die Idee der Machtübernahme aber noch weiter disqualifiziert, ist, dass es ja bislang noch niemandem gelungen ist, in ganz Afghanistan die Macht zu übernehmen: weder den Briten, noch den Russen, noch den Amerikanern, aber – und das ist entscheidend – auch keiner einzelnen Volksgruppe in Afghanistan (nicht einmal der Mehrheit: den Pashtunen).


Was daher passieren wird, ist, dass sich die Taliban, die ja nur über eine klägliche Truppe von 66.000 Kämpfern verfügen, innerhalb kürzester Zeit den Milizen unterschiedlicher War-Lords gegenübersehen werden. Und die sind keineswegs bereit, sich der Herrschaft der Taliban unterzuordnen. Folge dürfte ein lang anhaltender Bürgerkrieg sein. Bislang mag der Widerstand gegen und die Unzufriedenheit mit den Besatzern dazu geführt haben, dass nicht gegen die Taliban gekämpft wurde, aber wenn dieser intern integrierende Außenfeind aus dem Spiel ist, stellt sich die Machtfrage neu. Nun sind es die Taliban, die als die unterschiedlichen Fraktionen und Ethnien integrierender „Außenfeind“ fungieren dürften...


Also, wenn es Taliban-Aktien gäbe, so sollte man sie schleunigst verkaufen.