Die Unterscheidung „Siegen“ vs. „Nicht-Verlieren“

Ist es nur eine Frage der Formulierung, weil dasselbe gemeint ist, oder geht es bei der Diskussion, ob die Ukraine im Krieg mit Russland „siegen“ oder nur „nicht-verlieren“ darf/soll/muss, um unterschiedliche Kriegsziele.


Wenn man – aus einer (von mehreren möglichen) systemtheoretischen Perspektive auf Kriege schaut, so sind es Konflikte in der Sozialdimension der Kommunikation, bei denen keine Einigung über die Beziehungsdefinition der beteiligten Parteien besteht. Und statt über die Art der Beziehung zu verhandeln, wird Gewalt angewendet, um – im Falle eines Angriffskriegs – einseitig die gewünschte Beziehungsdefinition durchzusetzen. Und die Verteidigung hat das Ziel, die von der anderen Seite „angebotene“ Definition abzulehnen (ihre Negation). „Frieden“, um die Außenseite des Wortes „Krieg“ bzw. der impliziten Unterscheidung zu benennen, besteht nur dann, wenn die beteiligten Parteien sich über die Definition ihrer Beziehung einig sind oder sie – das ist der praktizierte Minimalkonsens – nicht mit Hilfe von Gewalt zu ändern versuchen.


Das klingt ziemlich abstrakt, daher ein wenig konkreter – am Beispiel der Beziehung Russland/Ukraine: Russland (bzw. seine Regierung) definiert die Beziehung asymmetrisch, d.h. es sieht sich selbst als Herrscher, die Ukraine (wenn man ihr denn überhaupt ein Existenzrecht zuspricht) soll unterworfen werden bzw. soll „sich unterwerfen“. Die letzte Formulierung zeigt schon das Dilemma: Russland versucht zwar mit Hilfe von Gewalt, seine Definition durchzusetzen, die Ukraine sagt zu diesem „Beziehungsangebot“ ab nein.


In diesem Fall ist für Russland „Siegen“ die markierte und inhaltlich definierte Innenseite der Unterscheidung „Siegen/Nicht-Verlieren“: die Unterordnung der Ukraine unter die russische Herrschaft (sei es als Eingliederung ins Russische Reich oder durch eine Marionettenregierung in Kiew o.Ä.). Der Gewinn an Territorium wäre nur Ausdruck der Unterordnung (das gilt tendenziell auch, wenn es sich nur um einige Oblaste handeln sollte, aber dann ist der „Sieg“ eben nur begrenzt).


„Siegen“ würde Russland also – gemessen an den ursprünglichen Kriegszielen – eigentlich nur, wenn die Ukraine kapituliert (wie Deutschland im 2. WK). Andernfalls, d.h. wenn sie diese Unterordnungs-Beziehung nicht akzeptiert, würde sie bestenfalls für einige Zeit Ruhe geben, und bei nächster Gelegenheit versuchen, sich von der russischen Herrschaft zu befreien versuchen. Die Waffenruhe wäre also kein Frieden, sondern nur eine Pause des Kriegs, bei der die Vorbereitungen für den nächsten Waffengang getroffen werden.


Für die Ukraine ist hingegen „Nicht-Verlieren“ die markierte und inhaltlich definierte Innenseite der Unterscheidung: Sie will sich nicht der russischen Herrschaft unterwerfen – und dies wird für sie durch den Erhalt der territorialen Integrität symbolisiert. Das Ziel der Kämpfe ist, die eigene Unabhängigkeit zu bewahren (bzw. sie gegen die Abhängigkeit von wem anderen – dem sogenannten „Westen“ einzutauschen) und die Symmetrie gegenüber Russland zu erhalten: zwei autonome Staaten, die einander als gleiche gegenüberstehen.


Das ist der Ukraine bisher einigermaßen gelungen, wenn auch nicht vollständig. Das wäre erst der Fall, wenn der Status quo ante wiederhergestellt wäre. Je nachdem, ob man als Kriegsbeginn 2014 oder 2022 definiert, heißt dies: Rückeroberung des Donbass und der Krim oder Rückzug der russischen Truppen hinter die Demarkationslinie im Donbass, wie sie am 23. 2. 2022 bestand.


Das „Nicht-Verlieren“ der Ukraine wäre also ein „Nicht-Siegen“ Russlands – noch nicht einmal ein „Verlieren“ Russlands, zumindest, wenn man Sieg und Niederlage an gewonnenem oder verlorenem Territorium misst (ganz im Sinne der Kriegsziele aus der Zeit bis zum 19. Jahrhundert). Es wäre Russland nur nicht gelungen, weitere Territorien zu „sammeln“, wie es das seit Jahrhunderten getan hat, aber es würde auch keine Territorien verlieren.


Auf der Beziehungsebene war/wäre die Ukraine ja damit zufrieden, wenn sie als selbständiger Staat auf Augenhöhe von Russland akzeptiert wird. Sie hat keine diese Definition verändernden Ziele. Sie wollte und will keine asymmetrische Beziehung zu Russland, bei der Russland sich unterwirft. Niemand käme auf die Idee, dass die Ukraine Russland beherrschen will und Selensky in den Kreml als neuer Zar einzieht. Wenn dies – analog zu den russischen Zielen – als „Sieg“ der Ukraine definiert würde, so wäre die Absurdität der Annahme, dass die Ukraine „siegen“ kann oder soll, offensichtlich.


Folgt man der Kriegs-Definition des israelitischen Militärhistorikers Martin van Creveld, dass Krieg ein Konflikt ist, bei dem die beteiligten Parteien ihre Existenz riskieren, so besteht diese Gefahr für die Ukraine, denn Putins Ziel ist die Staatlichkeit der Ukraine zu beenden. Umgekehrt ist das – nüchtern betrachtet – nicht der Fall. Allerdings versucht die innerrussische Propaganda eine Umdefinition der Kriegsparteien und Kriegsziele vorzunehmen, nach der die Existenz Russlands auf dem Spiel stehe: der Westen wolle Russland zerschlagen.


Den Westen als „Feind“ zu benennen, und sein Ziel (=“Sieg“) als Zerschlagung Russlands zu bestimmen, macht nun Russland zu einem Kontrahenten, der lediglich „nicht-verlieren“ will. Und der Einmarsch in die Ukraine ist dann nicht mehr als angemessene Vorbeugung, ein präventiver Schlag, der verhindern soll, dass Russland „verliert“.


Solch eine Sichtweise ist nur dann passend, wenn das Putin-Regime mit Russland identifiziert wird, und, da die Ukraine auf dem Weg war, ein „westlicher“ Staat zu werden (ohne dies hier im Einzelnen zu definieren), dies eine Bedrohung für Putin und die herrschende Clique war: Zerschlagung des Russischen Reichs = Systemwechsel.


Wenn – das scheint aus der Außenperspektive ein möglicher paradoxer Ausgang des Krieges, der mir persönlich nicht ganz unwahrscheinlich erscheint – die Russen tatsächlich aus der Ukraine vertrieben oder wenigstens größere Territorien von der Ukraine zurückerobert werden sollten, so kann es tatsächlich zur Zerschlagung des russischen Reichs kommen. Dann könnten auch die Menschen in Dagestan oder Tschetschenien oder anderen Regionen, in denen andere Ethnien als Russen die Mehrheit bilden, auf die Idee kommen, sich selbständig zu machen und die russische Herrschaft abzuwerfen. Das wäre dann das Ende des russischen Kolonialreichs. Um ein dreiviertel Jahrhundert verspätet, im Vergleich zu den britischen und französischen Weltreichen...