Flüchtlinge

Als vor ca. 6 Wochen die Willkommenskultur verkündet wurde und am Münchner Bahnhof Flüchtlinge von begeisterten Bundesbürgern bejubelt und mit Teddybären beworfen wurden, war ich ja sehr mißtrauisch. Die deutsche Kultur folgt m. E.  einem manisch-depressiven Muster, so dass ich damit gerechnet habe, dass nach höchstens zwei Wochen die Begeisterung in Ablehnung umschlagen würde. Und zum Teil geschieht das ja auch, obwohl mir scheint, dass diejenigen, die dort die Flüchtlinge willkommen hießen, andere Leute sind, als diejenigen, die heute auf Anti-Flüchtlingsdemos gehen und/oder Brandsätze in Flüchlingsheime werfen. Die Pressereaktion kippte allerdings nach etwa - wie von mir prognostiziert - zwei Wochen, und seither wird das Bild der Überforderung Deutschlands in der Öffentlichkeit gezeichnet.


Was mich bei alledem wirklich verblüfft, ist, dass die Hilfsbereitschaft der Ehrenamtlichen nicht nachzulassen scheint. Und diejenigen freiwilligen Helfer, die mal im Fernsehen zu Wort kommen, zeigen sich auch nicht überfordert, sondern zuversichtlich, dass sich das alles bewältigen läßt. Das passt nicht in mein altes Erklärungsschema. Da geschieht etwas Neues, das mir - wie ich gestehen muss - ganz gut gefällt. Tausende ehrenamtlich helfender Bürger engagieren sich. Und das nicht nur mal kurz, sondern offenbar dauerhaft und mit unerschütterlicher Geduld.


Meine eigene emotionale Reaktion darauf ist so ähnlich wie beim Beobachten von 40.000 Leuten, die sich beim Berlin-Marathon über den Kudamm quälen. Ich bin gerührt, angesichts der Opferbereitschaft.


Diese Hilfsbereitschaft und die daraus abgeleiteten Aktivitäten sind ein Phänomen, das m.E. der Erklärung bedarf.


Meine Erklärung ist, dass die Flüchtlinge ein weit verbreitetes Bedürfnis befriedigen, das im deutschen Alltag der letzten Jahre wahrscheinlich zu kurz gekomen ist. Es ist das Bedürfnis nach Sinn bzw. etwas Sinnvolles zu tun.


Der Konsum kann in einer Gesellschaft bzw. für Leute, die schon alles haben, nicht mehr Ziele setzen. Die Arbeit tut es auch nicht, wenn man in Organisationen arbeitet, wo man dafür bezahlt wird, fremdmotivierte Leistungen zu erbringen.


Mit dem Engagement für die Flüchtlinge wird womöglich eine postmaterialistische Phase der deutschen Geschichte eingeleitet. Womöglich wird Deutschland - getrieben von denen, die es sich leisten können zu helfen - doch noch sympathisch.


Es ist sicher kein Zufall, dass in erster Linie diejenigen Angst vor den Flüchtlingen haben, die sich als Konkurrenten um die Zahlungen aus den Töpfen des Sozialstaats oder um schlecht bezahlte Jobs erleben.


Ich persönlich sehe, da mache ich keinen Hehl draus, eher die Chancen für unser etwas verstaubtes Land. Die Risiken sind aber auch nicht zu verleugnen. Die Aufnahme der Flüchtlinge stellt eine Irritation dar, auf die unsere Gesellschaft strukturdeterminiert reagiert. Die Frage ist, welche Aspekte der deutschen Sozialstruktur wie wirken bzw. ob die "dunklen" oder die "hellen" Potentiale die Oberhand gewinnen.


Skeptisch bin ich allerdings für die Marathon-Bewegung: Wenn es die Chance gibt, sich für etwas Sinnvolles einzusetzen, braucht man sich keine selbstquälerischen Ziele wie z.B. 42,... km am Stück zu rennen mehr zu suchen...