Gnadenloses Bewerten

Mir wird ja oft vorgeworfen, dass ich hier im Blog meine Neutralität verliere und rigoros bewerte, ja, Personen und ihre Meinungen schamlos abwerte. Das stimmt. Ich bekenne. Warum ich das tue, ist vielleicht nicht auf den ersten Blick verständlich, deshalb ein paar Worte zu meiner Position.


Aus einer konstruktivistischen Perspektive hat es sich für mich pragmatisch bewährt bei Wirklichkeitskonstruktionen zwischen beschreiben, erklären und bewerten zu unterscheiden. In jedem dieser drei Bereiche kann man unterschiedlicher Sichtweise als Beobachter sein. Wenn man mit Konflikten zu tun hat, dann können sich die Konflikte daher auch auf diese drei Bereiche beziehen.


Um dies an einem aktuellen Beispiel zu illustrieren: Man kann sich schon über die Fakten streiten (- sind es 1,2 Millionen Flüchtlinge, die letztes Jahr in Deutschland gelandet sind, oder doch nur 900.000?). Auf dieser Ebene findet man als professioneller Konfliktbearbeiter noch am ehesten die Möglichkeit zum Konsens, denn die sogenannten Fakten sind es ja nur in den seltensten Fällen, die für Aufregung sorgen, sondern deren Erklärungen und Bewertungen. Erklären heißt: Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu konstruieren. Sie sind deswegen so brisant, weil aus ihnen Handlungsideen abgeleitet werden (- die Flüchtlinge kommen, weil Angela Merkel sie eingeladen hat vs. sie kommen, weil sie vor Krieg und politischer Verfolgung fliehen). Hier kann man sich weit weniger leicht einigen, weil mit diesen Erklärungen fast automatisch Bewertungen und Handlungskonsequenzen verbunden sind (- es war/ist ein politischer Fehler von Frau Merkel vs. es ist eine christliche Tat usw.). Aber Bewertungen sorgen umgekehrt auch für passende Erklärungen. Wenn Fremde generell eher als bedrohlich erlebt werden, dann sind es eben alles nur die Wirtschaftsflüchtlinge, die unsere Sozialsysteme ausbeuten wollen usw.


Was systemisches Denken vom Alltagsdenken der meisten Bürger unterscheidet, sind die alternativen (Zirkularität unterstellenden) Erklärungen. Der Status quo ist dann nicht einfach gegeben, sondern er bedarf auch immer eines organisierten Prozesses, der ihn erhält, d.h. bezogen auf gesellschaftliche Verhältnisse, dass es auch hier um Aktivitäten geht, die man unterschiedlich bewerten kann.


Aus solchen systemischen Erklärungen lassen sich aber nicht prinzipiell Bewertungen ableiten. Hier kommt der Beobachter ins Spiel. Es sind immer seine Bewertungen, um die es geht, und er kann die Verantwortung dafür nicht an eine Theorie oder Ideologie delegieren.


Wer handeln will, muss bewerten, indem er z.B. zwischen unterschiedlichen Alternativen wählt (was er aufgrund unterschiedlicher Erklärungen und Bewertungen macht, seien sie nun bewußt oder unbewußt).


Wenn ich mich also hier zu, beispielsweise, politischen Sachverhalten oder auch Protagonisten äußere und sie - besonders beliebt bei mir als "blöd", "idiotisch", "hirnrissig" o.ä. disqualifiziere, so ist das meine persönliche Bewertung. Ich verwende dabei bewußt Begriffe, die aus der Alltagssprache stammen, um von vornherein den Anschein zu vermeiden, ich würde - etwa als psychiatrischer - Fachmann einen Objektivitätsanspruch damit verbinden (dann würde ich über narzißtische Störungen usw. sprechen). Ich rede aber nicht als externer Beobachter, sondern als Staatsbürger, d.h. als Mitspieler, der nicht auf der Tribüne sitzt, sondern auf dem Feld steht und sich in den Streit der Meinungen einmischt. Als Berater oder Mediator müsste ich neutral sein, als Staatsbürger muss ich das nicht nur nicht sein, sondern ich kann und darf - vielleicht sogar: ich muss - Partei ergreifen.


Und - um auch diesen Aspekt meines Programms zu offenbaren - ich schreibe hier nie abwertend über Leute, die ich persönlich kenne, sondern nur über öffentliche Figuren (und nur, wenn ich sie nicht persönlich kenne), die derartige Beleidigungen in Kauf nehmen müssen, denn das gehört zu ihrem Job: Wer öffentlich kegelt, muss damit leben, dass öffentlich nachgezählt wird, ob und wieviele Kegel umgefallen sind...