Krieg?

Vor längerer Zeit, kurz vor dem Abriss des World Trade Center in New York/2001, habe ich mich aus systemtheoretischer Perspektive mit dem Thema Krieg beschäftigt und ein Buch publiziert („Tödliche Konflikte. Zur Selbstorganisation privater und öffentlicher Kriege“). Das „Schöne“ an einem Buch über Krieg ist, dass es aktuell bleibt und auch nach Jahren nicht umgeschrieben werden muss, weil die Muster der Kommunikation und Interaktion dieselben bleiben, auch wenn die konkreten Akteure wechseln. Daher hier eine paar Aspekte, die mir damals (und jetzt) als relevant für die Dynamik von Kriegen erscheinen und nicht schon in jeder Zeitung stehen.


1. Kriege werden von den Parteien begonnen, die nicht (!) die Macht haben – diejenigen, die in der Machtposition sind, brauchen keine Gewalt anzuwenden oder mit ihr zu drohen, denn sie haben ja schon die Macht...
2. Es geht in der Regel nicht um wirtschaftliche Vorteile, denn Kriege sind – außer vielleicht für ein paar Waffenhändler – immer ein ökonomisches Desaster für alle Beteiligten; ein viel wichtigeres Motiv ist der Kampf um Ehre. Dies ist zwar ein Konzept, über das heute wenig geredet wird, weil es eigentlich mit dem Ende des 19. Jahrhunderts seine Relevanz verloren zu haben scheint, als „Ehrenmänner“ sich im Morgengrauen auf Waldlichtungen zum Duell trafen.
3. Eng verbunden mit der Frage der Ehre ist die jeweils aktuelle Beziehungsdefinition, die durch Krieg und Kriegsdrohung in Frage gestellt wird. Auch wenn – wie ich finde unrichtig – von manchen Historikern und Politologen gelegentlich von „asymmetrischen Kriegen“ gesprochen wird, wenn nicht Staaten gegen Staaten Krieg führen, sondern Guerillagruppen (o.Ä.) gegen Staaten, so muss festgestellt werden, dass zu Beginn bzw. vor dem Krieg in der Regel eine asymmetrische Beziehung zwischen den künftigen Kriegsparteien besteht. Die Attraktivität des Krieges besteht nun darin, dass mit Beginn der Kriegshandlungen die Beziehung sich radikal verändert: Sie wird symmetrisch. Denn wenn man, zum Beispiel, in einer asymmetrischen Beziehung von seinem Nachbarn nicht zur Kenntnis genommen wird, so muss man ihm nur die Scheiben einwerfen, um sofort seine volle Aufmerksamkeit zu bekommen. Gewalt und Gewaltandrohung sind Botschaften, die nicht ignoriert werden können. Ab da besteht keine Asymmetrie der Beziehung mehr, sondern die wird „bestenfalls“ am Ende der Auseinandersetzung neu/wieder etabliert.
4. Ganz im Gegensatz zur Hoffnung vieler Kriegstreiber bestimmt – scheinbar paradoxerweise – der Verlierer, wann ein Krieg sein Ende findet. Erst wenn er die weiße Fahne zieht und kapituliert, ist der Krieg zu Ende. Denn jede Beziehungsdefinition bedarf der Zustimmung der Beteiligten, das gilt auch für die Sieger-Verlierer-Beziehung. Und man kann niemanden zur Zustimmung zwingen, d.h. jeder hat ein Vetorecht gegenüber dem Frieden. Wenn er der Asymmetrie der Beziehung nicht zustimmt, dann mag er sich eine Zeitlang wegducken und neue Kräfte sammeln, aber dann beginnt die ganze Dynamik von vorn.
5. Bezogen auf die aktuelle Situation: All das gilt auch für die bislang asymmetrische Beziehung zwischen dem Westen und Russland (diesem ökomischen Zwergstaat), und es wird nach der Invasion in die Ukraine auch für die asymmetrische Beziehung zwischen der Ukraine und Russland gelten. Es ist absehbar, dass dann kein Frieden herrscht. Daher könnte es sein, dass die Russen sich gestern Luhansk und Donetsk einverleibt haben, um sich nicht die Ukraine unter den Nagel reißen zu müssen, was ihnen auf Jahre kriegerische Auseinandersetzungen bescheren würde. So können sie gesichtswahrend ihre Truppen, welche die Ukraine umzingeln, wieder nach Hause schicken, ohne russischen Müttern ihre Söhne in Bodybags zurück schicken zu müssen. Die Symmetrie der Beziehung zum Westen ist ja durch das Pilgern der ganzen Staatschefs nach Moskau längst wieder etabliert. Putin, der ja ein Mann aus dem 19. Jahrhundert zu sein scheint, mag wieder eine koloniale Großmacht Russland etablieren wollen, aber das wird ihm im 21. Jahrhundert nicht mehr gelingen, denn die Kontrolle über andere Länder/Kolonien ist so teuer, dass – wie durch den Zusammenbruch des Sowjetimperiums bewiesen – es sich einfach langfristig nicht rechnet. Putin wird es nicht schaffen, als derjenige in die Geschichte einzugehen, der Großrusslands wiedererrichtet hat.