Mathetik

Gute Entwicklungen, auf den klaren Begriff gebracht, gewinnen meist an Fahrt. Unsere Schulen brauchen eine gute Entwicklung, aber wie bringt man das begrifflich auf den Punkt? Es gibt eine systemrelevante Schraube, an der wir nur zu drehen brauchen, und die hat schon einen Namen.


Dazu ein Blick zurück: Alle heutigen Lehrerinnen und Lehrer kennen ihn als Stammvater der modernen Pädagogik: Johann Amos Comenius (1592 – 1670). Mit ihm fing etwas an, das bis heute im Mittelpunkt ihrer Arbeit des Unterrichtens steht, die Didaktik, damals die „Kunst des Lehrens“ genannt. Im 20. Jahrhundert mutierte diese zur Theorie des Unterrichts. Immer ging und geht es hier um die geschickte Lehre, den perfekten Unterricht. Auch wenn man etwas beschönigend von Lehren und Lernen zu sprechen pflegt.

Ziemlich unbekannt ist, dass Comenius neben der Didaktik einen Schwesterbegriff verwendet hat: die Mathetik, die Kunst des Lernens. Dass die Schulmeisterei über vier Jahrhunderte dem Glauben huldigen konnte (und weitgehend noch immer huldigt), man müsse den Stoff nur geschickt vermitteln, dann geschehe das Lernen wie von alleine, ist ein pädagogischer Grundirrtum, mit schweren Folgen. Das massenhafte Ausmustern, von dem hier neulich die Rede war, ist nur eine davon, wenn auch die vielleicht brutalste.


„Mathetik betrachtet schulisches Lernen aus dem Blickwinkel des Schülers und charakterisiert das Verhältnis zwischen Lehrperson und Lernenden als ‚symmetrisch‘ und ‚herrschaftsfrei‘. Das bedeutet, Schüler und Lehrperson stehen auf einer Ebene. Die Lehrperson ist nicht ‚Herr‘ des Lernenden, sondern Lernberater und helfender Erzieher.“ (www.schulpaed.de/de/mathetik.html)


Mathetik ist das notwendige Gegengewicht zur Didaktik, weil sie das Lernen in den Mittelpunkt des Handelns stellt. Ich denke, sie sollte als Wissenschaft vom Lernen und als Lernkunst auf gleicher Höhe wie das Pendant, die Didaktik diskutiert werden. Schließlich braucht es beides!


Das kann ein Paradigmenwechsel in der Pädagogik werden. Hartmut von Hentig holte 1983 den einst von Platon geprägten und von Comenius in seiner Großen Didaktik verwendeten Begriff für ein Gerichtsgutachten aus der Versenkung. Zur Stärkung der Reformpädagogik. Inzwischen gibt es eine zwar noch kleine, zukunftsorientierte Schar von Pädagogen, die bei ihrer Arbeit den Begriff mit Leben füllen, wenn sie von Mathetik als der Wissenschaft vom Lernen sprechen. Die stützt sich zunächst stark auf den französischen Reformpädagogen Freinet, den Erfinder der Freiarbeit. Es gehört aber meines Erachtens noch viel mehr dazu. Ich denke an Maria Montessori (Hilf mir, es selbst zu tun!), an Sebastian Leitner, den Erfinder der praktischen Lernkartei mit den verschieden dimensionierten Fächern, an Georg Kerschensteiner, den Erfinder der Arbeitsschulpädagogik (im Grunde das „Learning by doing“) oder Peter Petersen, der das Prinzip des selbstständigen Lernens in altersgemischten Gruppen verwirklicht hat. Aber auch Georgi Lozanow, der bulgarische Psychiater, gehört dazu, der mit seinem System der Suggestopädie dem Lernen neue Dimensionen eröffnet hat. Die Reihe ließe sich um viele Namen und manch wirkungsvollen Ansatz erweitern. Ausdrücklich erwähnt sei die Hirnforschung über das Lernen, von der wir sicher wesentliche weitere Impulse erwarten dürfen.


Dazu sollte aus meiner Sicht unbedingt das gehören, was als Mnemonik, die Gedächtnisbildung, seit alters her als eine der fünf Säulen der Rhetorik gepflegt worden ist, die alte Kunst des Lernens, die zu Platons Zeiten bereits runde 100 Jahre im Schwange gewesen sein dürfte. Wir wollen ja in unseren Schulen keine Gedächtnisweltmeister (wie in der Eliteschule Schloss Torgelow) heranbilden. Wenn es aber einfache und leicht vermittelbare geistige Techniken (wie die der Mnemonik) gibt, die unsere jungen Leute in die Lage versetzen, sich aus eigener Kraft und eigenem Antrieb alles präzise zu merken, was immer sie sich merken wollen, dann sollten wir das mit aller Energie voranbringen. In unserer Zeit, in der die Zerstreuung allgegenwärtig, die Versammlung der geistigen Kräfte schwierig ist, kann dieser Ansatz Wunder wirken. Dazu demnächst ein eigener Beitrag.


Die Mathetik, der neue alte Begriff kann das alles unter einen Hut bringen: Elemente für eine neue Kultur des Lernens, die jedes für sich das alte schulische System in eine neue Richtung hin entwickeln, die alle zusammen aber zu einem Quantensprung der Schulentwicklung führen können, wenn sie nur genügend gewollt und praktiziert werden. Das Schöne ist, dass es gegenwärtig an vielen Ecken keimt und sprießt.

Für die Schule der Zukunft braucht es Entwicklung auf mehreren Ebenen. Auf der Ebene der Schule, um die es hier geht, könnte der Begriff der Mathetik eine wirkungsmächtige Graswurzelpädagogik fördern: Anreicherung des Systems, die die Lernenden zu eigenständiger, selbstbestimmter Lernleistung befähigt. Das bewirkt garantiert eine Effizienzinitiative des Lernens. Viele der Probleme der Schule von heute würden sich vielleicht nicht gerade in Luft auflösen, aber sie wären alsbald deutlich gemildert, die Ergebnisse um ein Vielfaches besser, das Scheitern an der Schule deutlich reduziert. Und das Schönste für alle Beteiligten: Lehrer, Schulleiter und Eltern können handeln. Auf Augenhöhe mit den Hierarchen aus Verwaltung, Wissenschaft und Politik nach dem Motto: Wer lernt, hat Recht. Gebt darum der Mathetik Raum in euren Bemühungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, egal wo Ihr im System auch arbeitet! Es ist in eurem wohlverstandenen eigenen Interesse.