Mensch ärgere dich nicht beim Völkerball

Vor einigen Tagen bin ich mit der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB) gefahren, Familienabteil mit Tisch. Auf der Tischplatte war das Spielfeld des mir aus meiner Kindheit sehr vertrauten „Mensch ärgere dich nicht“-Spiels abgedruckt („Spielsteine beim Zugbegleiter“). Bis dahin war mir alles bekannt, und ich fand es eine gute Idee, solch ein Spiel im Familienabteil zur Verfügung zu stellen (auch wenn ich keine Kinder dabei hatte).
Allerdings begann ich mich etwas zu wundern, als ich die Spielanleitung las. Ich selbst bin ja mit den frustrierenden Kindheitserfahrungen groß geworden, dass von irgendeinem böswilligen Familienmitglied meine Spielfigurenn meist kurz von den rettenden Zielfeldern „rausgeworfen“ wurden und ich von vorn anfangen musste. In der ÖBB hingegen war zu lesen, dass man, wenn das erwürfelte Feld besetzt ist, seine eigene Spielfigur aus dem Spiel zu nehmen habe und von vorn anfangen müsse.
Eine kleine Regeländerung (die vielleicht nur der Beachtung des Copyrights, das wahrscheinlich jemand auf das Spiel hat, Rechnung tragen sollte), die weitreichende Konsequenzen hat: Während in der Originalversion auf die niederen Instinkte unserer Lieben (denn nur mit denen spielt man das ja) gesetzt wird – vor allem auf die Schadenfreude, jemanden kurz vor dem Ziel noch rauszuwerfen – führt diese kleine Regeländerung dazu, dass der Konflikt um das besetzte Spielfeld autodestruktiv gelöst wird. Im Zweifel, wenn man z.B. mehrere Figuren auf dem Spielfeld und die Option hat, den Konflikt zu vermeiden, so ist dies bei dieser Version vorteilhafter als sich selbst ins Aus zu manövrieren.
Was lernt man bei den beiden Versionen des Spiels Unterschiedliches? Im Original geht es um Wettbewerb, Konkurrenz, Konflikte können gewonnen und verloren werden, Alles-oder-nichts; trainiert wird nicht nur die Freude am Wettbewerb, an der Niederlage des Anderen, am Gewinnen, sondern auch die Frustrationstoleranz, das Wieder-Anfangen, wenn man einen Rückschlag ertragen muss usw.
In der ÖBB-Version werden hingegen die Vorteile der Konfliktvermeidung für das individuelle Gewinnen – denn das gibt es in der Version ja immer noch – vermittelt. Außerdem führt Konkurrenz hier stets zum Nachteil für denjenigen, der später kommt. Wer zuerst auf einem Feld steht, hat die älteren Rechte, und die sind geschützt. Wer solch einen Besitzstand bedroht, zahlt einen hohen Preis dafür. Ziemlich konservativ, nicht sonderlich revolutionär, keine Enteignungen...
Ich will hier die sozialphilosophischen Überlegungen über „Mensch ärgere dich nicht“ beenden; wahrscheinlich wäre da noch mehr über die durch das Spiel vermittelten Erwartungen an soziale Beziehungen herauszuholen, sondern stattdessen auf ein anderes Spiel eingehen.
Eine meiner wichtigsten Möglichkeiten mich fortzubilden, besteht im Anschauen des sonntäglichen „Tatorts“. In dem am 20. 10. 24 bemerkte die von Ulrich Tukur gespielte Hauptfigur sinngemäß, dass „Völkerball“ (was in meiner Schulzeit das Highlight der Turnstunden war) letztlich die Abbildung des Krieges sei: Zwei Mannschaften – Völker – haben die Aufgabe, sich gegenseitig aus dem Spiel zu nehmen. Man versucht, mit dem Ball jeweils einen Spieler der gegnerischen Mannschaft zu treffen, während diese auszuweichen versuchen. Wer getroffen wird, scheidet aus. Gewonnen hat das Volk, das am Ende noch Kämpfer auf dem Feld hat. (Im Unterschied zum Ukraine-Russland-„Spiel“ starten – Sport bleibt Sport – beide Mannschaften mit gleichviel Spielern). Es geht aber auch hier um die Drohung der gegenseitigen Vernichtung als „Volk“. So habe ich das zwar als Teilnehmer nie gesehen, fand die Überlegung aber ziemlich plausibel und erschreckend.
Wahrscheinlich wird dieses Spiel auch heute noch gespielt, aber ich bezweifle, dass es noch Völkerball heißt. Zumindest fände ich das ziemlich problematisch. Wenn die Frustrationstoleranz beim „Mensch ärgere dich nicht“ nicht mehr trainiert würde, fände ich das auch nicht wirklich gut. Aber wahrscheinlich ist dies ja nur die Variante der ÖBB, die darauf zielt, keine heulenden Kinder im Zug zu haben.