Mißbrauch in der Psychotherapie

In der ZEIT von voriger Woche (16.8.2018) findet sich ein drei Seiten umfassendes "Dossier" mit dem Titel "Das kranke System des Doktor F." über einen Psychotherapeuten, der in Heidelberg über Jahre Kinder (die bei ihm in Therapie waren), Patientinnen und Ausbildungskandidatinnen sexuell mißbraucht hat.


Die meisten der im Artikel erwähnten Personen, auch Herrn Dr. F., kannte ich - ihn allerdings nur flüchtig. Ich war Mitglied des psychoanalytischen Instituts in Heidelberg, allerdings war die Distanz der Mitarbeiter unseres Familientherapie-Instituts zu den Psychoanalytikern ziemlich distanziert, da wir lauter unarthodoxe Methoden verwendeten, die uns - durchaus von uns gewollt - zu Außenseitern machten. Meinen eigenen Ruf hatte ich bereits durch meine Antrittsvorlesung bei den Analytikern verdorben, in dem ich mich mit den nicht Paradoxien der institutionalisierten Analyse und der (verleugneten) Macht des Analytikers auseinandergesetzt hatte. Er hat die Macht zu definieren, was "wirklich" ist, (Muster: "Sie wollen unbewußt mit ihrer Mutter schlafen!" - "Nein, das ist nicht wahr!" - "Sehen sie, es ist unbewußt!").


Was mich an dem ZEIT-Artikel verwundert, um nicht zu sagen: erschüttert, hat, ist, wie wenig Konsequenzen es hatte, dass in der Heidelberger Psychoszene jeder wußte, was Dr. F. Patienten getan hatte. Er musste von seinem Posten als Leiter des kindertherapeutischen Instituts zurücktreten. Ich bin damals davon ausgegangen, dass er damit aus dem Verkehr gezogen wäre und nicht mehr auf Patienten losgelassen würde. Das war offenbar nicht der Fall.


Die Honoratioren der psychoanalytischen Szene haben den Fall unter den Teppich gekehrt, um den Ruf der Profession zu schützen. So ähnlich waren die Vertreter der katholischen Kirche wohl auch motiviert, als sie all die Priester, die Kinder mißbrauchten, nicht aus dem Amt gejagt haben.


Was mir in dem Artikel zu kurz kam, auch wenn es kurz gestreift wurde: Die Machtbeziehung, die zwischen Lehranalytiker und Ausbildungskandidat besteht. Denn da werden zwei Kontexte miteinander vermischt: die Analyse und die Institution mit ihren Gremien, die über die berufliche Zukunft des Kandidaten bestimmt. Offiziell darf zwar der Lehranalytiker in den meisten Instituten nicht mit abstimmen - wenn ich mich an das Institut erinnere, in dem ich meine Ausbildung absolviert habe -, wenn es um einen Lehranalysanden und sein Schicksal geht, aber da die Analytiker sich gegenseitig gut kennen und meist auch noch befreundet sind, steht diese Trennung nur auf dem Papier.


Wenn diese Institute ihre internen Machtbeziehungen zu wenig reflektieren, dürfte das daran liegen, dass sie stets Gefahr laufen, alle sozialen Beziehungen in Dyaden oder Triaden zu zerlegen und zu analysieren. Sie können eben nur bis drei zählen. Aber komplexeren sozialen Systemen und Beziehungen wird man so sicher nicht gerecht.


Auf jeden Fall sollte dieser Fall eine Mahnung sein, dass Psychotherapeuten das Gebot der Abstinenz nicht nur in ihren Publikationen, sondern auch in ihrer Praxis als "heilige Regel" pflegen und befolgen müssen, wenn verhindert werden soll, dass all die Mißbräuche, wie sie in der MeToo-Bewegung thematisiert werden, in weit gravierenderem und schrecklicherem Maße stattfinden. Denn die Täter haben, wie Priester, eine Rolle, bei der sie einen Vertrauensvorschuss ausnutzen können, der ihnen eine weit größere Macht gibt, als sie ein Filmproduzent jemals haben kann.