Populär vs. populistisch

In der öffentlichen Diskussion werden die beiden o.g. Begriffe häufig synonym verwandt. Das ist natürlich totaler Quatsch, ja m.E. sogar ein ziemlich gefährlicher, weil den Populismus verharmlosender Unsinn. Denn Popularität ist nicht negativ zu bewerten. Populär sind der „Musikantenstadel“ und das „iPhone“, Popstars und viele Fußballnationalspieler – und manchmal eben auch Politiker. Wer gewählt werden will oder die Quote seiner Zusachauer im TV erhöhen will, sollte sich um Popularität bemühen. Volkstümlichkeit, Beliebtheit etc. sind durchaus Qualitäten, die man schätzen kann (wenn auch sicher nicht muss; Wissenschaftler z.B., die populär sind oder schreiben, werden von ihren Kollegen in der Regel mit Mißtrauen beobachtet). Populismus hingegen ist eine politische Strategie, die darauf setzt, eine Innen-außen-Unterscheidung zwischen Freunden und Feinden, wobei die „Feinde“ als nicht zum „Volk“ gehörend definiert sind, verbindlich auf politischer Ebene durchzusetzen. Da ich dazu hier schon geschrieben habe und – habituell bequem – Doppelarbeiten zu vermeiden suche, hänge ich einen Artikel an, in dem ich das etwas detaillierter darzustellen versucht habe (publiziert in: Flandziu – Halbjahresblätter für Literatur der Moderne, Jg. 11, 2019). Wer interessiert ist, mag da weiter lesen…


 


 


 


 


Wer oder was ist „das Volk“ des Populismus?


Fritz B. Simon


 


Vorbemerkung


Der Gebrauch eines Wortes bestimmt seine Bedeutung (Wittgenstein 1952, §§ 7-10, S. 241f.). Und: Wo immer Bezeichnungen verwendet werden, wird auf (mindestens) eine Unterscheidung verwiesen (Spencer-Brown 1969, S.3 ff.). Beim Unterscheiden wird eine Grenze zwischen einem Zustand, Raum oder Inhalt auf der Innenseite der Grenze und einem Raum, Zustand oder Inhalt auf der Außenseite gezogen. Mindestens einer der beiden Seiten wird dabei mindestens ein definierendes Merkmal der Unterscheidung zugeschrieben, das der anderen Seite nicht zugeschrieben wird; aber beide Seiten für sich können separat bezeichnet werden, das heißt, z.B. mit einem Wort benannt werden. Das heißt: Worte können auch auf Räume, Zustände oder Inhalte verweisen, die nicht durch unterscheidbare Merkmale definiert sind.


Von diesen Prämissen ausgehend stellt sich die Frage, mit welcher Bedeutung das Wort „Volk“ im populistischen Diskurs gebraucht wird. 


 


Der Fremde/der äußere Feind


Es ist ziemlich schwierig festzustellen, welches soziale Gebilde mit der Bezeichnung Volk benannt werden kann. Woran würde das berühmte grüne Männchen vom Mars erkennen, dass es „dem Volk“ oder „irgendeinem Volk“ begegnet? Die Definition ist deswegen so schwierig, weil die Bevölkerung eines Landes (womit ja meist etwas anderes als „das Volk“ gemeint ist) extrem vielfältig und differenziert in seiner Zusammensetzung ist. Die Variationsbreite persönlicher Charakteristika der unterschiedlichen Individuen und Interessengruppen ist so groß, dass es vermessen wäre, ihnen ein alle verbindendes definierendes Merkmal zuordnen zu wollen. Es gibt so viele Gruppen mit gegensätzlichen Zielen und Selbstdefinitionen, dass ihnen allen kaum ein auf ihre Spezifika eingehendes politisches Programm oder Versprechen gerecht werden könnte oder auch nur mehrheitsfähig wäre.


Angesichts dieser Diversität der Interessen und Lebensumstände hilft die Erfindung des »Volks« als integrierte Einheit. Damit wird ein Konsens und eine interne Konfliktfreiheit suggeriert, die in der Realität des Alltags kaum bzw. nur kurzzeitig in wenigen besonderen Situationen (z.B. Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft) erlebbar sein dürfte.


Eines der Konstruktionsprinzipien der Sprache bzw. des Gebrauchs von Worten, Etiketten und Namen sowie dem an sie gebundenen Denken ist, dass man Begriffe nicht allein dadurch definieren kann, indem man ihnen eine Bedeutung bzw. charakteristische Merkmale zuschreibt, sondern, dass man – ganz im Gegenteil – ihre Bedeutung negativ definiert, d.h. indem man bestimmt, welche definierenden Merkmale nicht (!) auf sie zutreffen.


Angewandt auf die Definition von »Volk« zeigt sich, dass über die Außenseite der Unterscheidung Volk/Nicht-Volk, das heißt über die Menschen oder Gruppen, die nicht zum Volk gehören, sich leichter ein Konsens erzielen lässt, als über unverwechselbare Merkmale des Volks. Folgt man Carl Schmitt (1932, S. 26f.), so folgen politische Handlungen der „Unterscheidung von Freund und Feind“. Diese Unterscheidung „hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen“.


Die von Populisten genutzte – und den Populismus definierende – Strategie ist, sich von einem beeindruckenden Feind, idealerweise einem Außenfeind, von dem jeder schon gehört hat, abzugrenzen (Dissoziation) und durch ihn „das Volk“ als Gemeinschaft (Assoziation) zu definieren. Auf diese Weise kann eine (gefühlte/gedachte/phantasierte) Verbindung der ansonsten unverbundenen, heterogenen Teile der Bevölkerung suggeriert werden. Die Abgrenzung gegen alle, die nicht zum „Volk“ gehören, seien es Individuen oder soziale Einheiten, denen Merkmale zugeschrieben werden können (=Außenseite der Unterscheidung), die „dem Volk“ nicht zugeschrieben werden (=Innenseite der Unterscheidung) schafft eine klare Grenze zwischen innen und außen (vgl. Simon 2019, S. 31f.).


Da solche Feinde nicht vom Himmel fallen, ist es am einfachsten sie zu konstruieren (was den Vorteil hat, dass man – wenn man auf sie verweisen will, um die eigene Identität zu definieren – nicht vom tatsächlichen Vorhandensein ihrer feindseligen Motive oder Handlungen abhängig ist). Es liegt dabei nahe, an historische Erfahrungen und tradierte kulturelle Muster anzuschließen; das heißt im Klartext: die als Volksgut überlieferten Urteile und Vorurteile zu nutzen.


In jedem Fall müssen den Feinden bedrohliche Eigenschaften, Ziele und Motive zugeschrieben werden, die im Idealfall nicht nur unmittelbar den Unterschied zum jeweiligen „Volk“, um dessen Wohl es geht, erkennen lassen, sondern auch deutlich machen, dass sie eine reale Gefahr darstellen.


Da Politiker in der Kommunikation mit ihrer potenziellen Basis, dem  sogenannten „einfachen“ Volk, keine großartigen intellektuellen Erörterungen anstellen können, werden als Erkennungsmerkmal der Feinde in der Regel Äußerlichkeiten gewählt: Alle sinnlich wahrnehmbaren Merkmale der Unterscheidung zwischen „uns“, dem „Volk“, das es zu schützen gilt, und „den Fremden“ sind dabei nutzbar. Am besten sind Eigenschaften geeignet, die mit dem Körper der potenziellen Feinde fest verbunden sind und nicht verheimlicht werden können. An erster Stelle ist hier natürlich die Hautfarbe zu nennen (Muster: „die gelbe Gefahr“), aber auch andere körperliche Merkmale wie große Nasen, „Schlitzaugen“, Haarfarbe etc. Alle anders aussehenden Menschen bieten sich an – sowohl Individuen als auch Gruppierungen – als Feind genutzt zu werden.


Sie in dieser Funktion zu funktionalisieren ist relativ einfach, weil die Angst vor Fremdem – wie bei kleinen Kindern gut zu beobachten ist – wahrscheinlich zum genetischen Erbe der Menschheit gehört und einen Aspekt des kollektiven Unbewussten darstellt, an den jederzeit appelliert werden kann. Wenn rassische Merkmale genutzt werden, dann besteht die freie Wahl zwischen vielen konkreten Personen, denen die Rolle als Fremder/Feind zugewiesen werden kann. Das ist der große Vorteil von Pauschalisierungen: Man braucht sich nicht um die vermeintliche Beweiskraft von Gegenbeispielen zu kümmern, denn die Ausnahme bestätigt ja nur die Regel.


Der Vorteil eines äußerlich als „fremd“ identifizierbaren Feindes besteht darin, dass er – auch wenn er nur harmlos spazieren geht – überproportional in den Fokus der Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen gerät.


Das Fundament des Populismus ist mit der Warnung vor dem Außenfeind gelegt. Dies gelingt langfristig vor allem dann, wenn der vermeintliche Feind durch Aktionen, die als aggressiv gedeutet werden können, diese Zuschreibung stützt. Der mit seiner Existenz verbundene Innen-außen-Konflikt, der die Solidarisierung sich bedroht fühlender Bürger wahrscheinlicher macht, ist aber für jede populistische Strategie mit einem Dilemma verbunden: Er suggeriert die Einheit des Volkes. Um die Macht innerhalb einer politischen Einheit (z.B. einer Nation), deren politisches System als repräsentative Demokratie organisiert ist, zu erlangen oder zu erhalten, bedarf es des internen Konflikts. Dazu muss der Unterschied zu anderen Parteien, d.h. zu den Mitbewerbern um die formale Macht, betont werden. Dazu wird für die interne Differenzierung und Polarisierung erfahrungsgemäß die Strategie der Kreation eines Feindes fortgesetzt, genauer gesagt: Es wird ein interner Feind konstruiert. Wenn nur der Außenfeind im Blick wäre, gäbe es keinen Grund, an den internen Machtverhältnissen des Landes etwas zu verändern. Unabdingbar ist daher ein interner Konflikt.


 


Die Identität des Volks/Der interne Feind


Warnungen bzw. die Erzeugung von Angst vor äußeren Feinden/Fremden sind nur ein erster Schritt in jeder populistischen Strategie. Gemäß der Alles-oder-Nichts-Unterscheidung zwischen Freund und Feind („Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“) lassen sich öffentlich und vehement alle Leute verdächtigen, die den Außenfeind nicht als Feind betrachten und ihn durch Worte oder Taten verteidigen. Dadurch beweisen sie ja, dass sie zu den Feinden gehören. Diese „Feinde im eigenen Bett“ werden dann als noch gefährlicher als der Außenfeind dargestellt, da sie nicht so leicht erkennbar sind und das ihnen geschenkte Vertrauen missbrauchen.


Das gilt auch für alle Feinde im Geiste, das heißt, die Gegner, die nicht äußerlich auffallen, sondern durch das, was sie denken und fühlen, gefährlich sind. Anhänger fremder Religionen, Vertreter bestimmter politischer Richtungen, Angehörige fremder Nationen, denen man nicht ansieht, was sie glauben usw. Wenn bislang von deren feindseligen Absichten nichts zu merken war, so wird dies meist als Beweis ihrer Raffinesse und Hinterhältigkeit, als Bestätigung ihrer Gefährlichkeit gebraucht. Der Realitätsgehalt solcher Behauptungen ist dabei unwichtig, solange dem internen Feind diese negativen Charakteristika im Prinzip zugewiesen werden könnten. Wenn diesem Globalbegriffe zur Kennzeichnung der Feinde verwendet werden („das“ Großkapital, „der“ Kommunismus oder „der“ Sozialismus, „die“ Juden, „die“ Muslime usw.), so hat dies die Funktion zu verhindern, dass konkrete Individuen als Gegenbeispiele für nicht-feindliche Merkmale oder gar der Bevölkerung dienendes Verhalten einzelner angeführt werden können.


Für die Rolle und Funktion des politischen Gegners bietet sich im Prinzip jeder an, der die Feindseligkeit des Außenfeindes nicht als gegebene Tatsache akzeptiert oder relativiert. Er wird dann als Mitglied der „fünften Kolonne“ des Feindes (o.ä.) etikettiert, d.h. seine Glaubhaftigkeit wird in Frage gestellt, und er selbst als „vaterlandsloser Geselle“ oder „Verräter“ ins Abseits verunglimpft. Um jemandem diesen Status zu verpassen, reicht es schon, wenn er Verständnis für den Außenfeind oder Sympathie für ihn äußert. Auch wer eine neutrale Position oder eine Außenperspektive auf die gemeinsame Interaktion und Geschichte mit dem äußeren Feind einzunehmen versucht, läuft Gefahr nach dem Wer-nicht-für-uns-ist-ist-gegen-uns-Schema als Verräter kategorisiert zu werden.


Doch auch ohne irgendeinen Bezug zu einem Außenfeind lässt sich ein interner Feind zwecks eigener Profilierung (er-)finden. Wie die Strategen des alten China schon festgestellt haben, ist es kräftesparend, das Potenzial der aktuellen Situation für seine eigenen Ziele zu nutzen (Jullien 1996, S. 91ff.). Wer mit dem Strom schwimmt, kommt schneller vorwärts. Das bedeutet aber nicht, dem Mainstream zu folgen, sondern mit den bestehenden sozialen Strömungen, die bislang nicht oder nicht hinreichend im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, zu schwimmen.


Aktuell liefert dieses Energie- und Situationspotenzial zweifellos die seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zunehmende Spaltung der westlichen Gesellschaften in Arm und Reich. Es manifestiert sich in den Demonstrationen diffus Unzufriedener und Enttäuschter, die in immer kürzeren Abständen die Straßen der europäischen Großstädte blockieren. Dies ist ein Symptom dafür, dass die westlichen Demokratien den Ansprüchen von individueller Freiheit des Einzelnen, Gleichheit der Chancen und Solidarität mit dem Bürger, wenn er in Notlagen gerät, nicht gerecht werden. Die etablierten Parteien lassen im Gegensatz zu den von ihnen proklamierten Werten riesige Unterschiede in den Lebensverhältnissen unterschiedlicher Schichten der Bevölkerung zu, ja, sie fördern sie sogar. Die Schere zwischen gut bezahlter Arbeit und prekären Jobs ist weit geöffnet, ohne dass dies Leistungsunterschieden zwischen den Einzelnen entspricht. Dies zeigt einen Fehler im aktuellen politischen System, der von Populisten genutzt wird, wenn die damit verbundenen Probleme nicht von den etablierten Parteien adressiert werden.


Mit der Schere, die das Land in zwei Einheiten teilt, lässt sich eine kognitive Landkarte zurechtschneiden, an der populistische Strategien ihre Argumentation und ihr Handeln orientieren. Dazu bedarf es innerhalb der Bevölkerung der Unterscheidung (und in der Folge Polarisierung) zwischen „wir“ und „die anderen“. Es wird ein prinzipieller Interessenkonflikt zwischen zwei (nur zwei!) Teilen der Gesellschaft konstruiert oder offengelegt (das kommt in der Praxis auf dasselbe heraus, da auch erfundene soziale Differenzen innerhalb der gesellschaftlichen Kommunikation die Tendenz haben, sich als selbsterfüllende Prophezeiung zu erweisen, das heißt zu realisieren). Um “die anderen“ und ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Charakteristika zu bestimmen, reicht es auch hier, das Volk durch die Merkmale “der anderen“, die dem Volk fehlen, zu definieren und der fiktiven, als „wir“ bezeichneten, Einheit zu einer vielleicht nicht direkt erkennbaren, aber doch benennbaren Identität als “Nicht-die-anderen“ zu verhelfen.


Die interne Konfliktlinie (“wir“ vs. “die anderen“) ist so gestaltet, dass sie die Wahrscheinlichkeit erhöht, Mehrheiten zu bilden (was, solange die Regeln einer repräsentativen Demokratie gelten, nicht zu vermeiden ist). Als Königsweg, “das Volk“ zu definieren, hat sich daher der Weg erwiesen, eine Minderheit zu suchen, von der die meisten Mitglieder der Bevölkerung sich unterscheiden. Es ist egal, welche Minderheit das ist, Hauptsache, es handelt sich um eine Minderheit, denn ihr steht zwangsläufig immer eine Mehrheit gegenüber. Diese Mehrheit muss dann nur noch aktiviert und auf die Straße oder wenigstens an die Wahlurnen gebracht werden.


Im Laufe der Geschichte ist in den verschiedenen Gegenden der Welt der Kontrast zu einer Vielfalt von Minderheiten zur Identifizierung des Volks gebraucht worden. Aktuell, wo die Lebensverhältnisse von „denen da oben“ und „denen da unten“ allgemein beobachtbar immer größer werden, ist nicht verwunderlich, dass dieser strukturelle Konflikt genutzt wird und der Kampf „derer da unten“ – denn sie sind „das Volk“ – gegen „die da oben“ auf die Fahne geschrieben wird. „Die da oben“, das sind die sogenannten „Eliten“.


Elite ist ein Begriff, der über Jahrzehnte in der deutschen Umgangssprache kaum gebräuchlich war, aber seit einiger Zeit prägt er die öffentliche Diskussion in erstaunlicher Weise. Da sich nur die wenigsten Menschen selbst einer (irgendeiner) Elite zurechnen, bietet sich der Begriff der Elite zur Benennung des inneren Feindes an. In der Abgrenzung zu „den“ Eliten (Mehrzahl, da so die Option offengelassen wird, gleichzeitig mehrere, nicht miteinander verbundene Minderheiten „da oben“ zur Abgrenzung zu nutzen) gewinnt „das Volk“ seine Identität gegen...


Diese Form der Identitätsbildung ist keineswegs pathologisch, sondern in der Entwicklung des Individuums ein normaler Schritt (z. B. in der sogenannten Trotzphase des kleinen Kindes, vgl. Spitz 1957). Wenn man weiß, wogegen man ist, muss man nicht wissen, wofür man ist. Aber das ist kein Problem, denn auch im Dagegensein erlebt man schon seine Autonomie, den Akt der Auflehnung und eigenen Handlungsfähigkeit, das Nicht-Akzeptieren der Unterwerfung unter den Status quo und diejenigen, die ihn verwalten und von ihm profitieren. Was für den Einzelnen gilt, kann ohne Weiteres auf massenpsychologische Prozesse übertragen werden:


Im Kampf gegen die Eliten – „da oben“ – erfindet sich „das Volk“ (in Abgrenzung zu den Herrschenden war schon im klassischen Griechenland „demos“ – das Volk – definiert).


Der Streit, der die Themen der abendlichen Talkshows wie der Politologie bestimmt, ob es die »Abgehängten«, die »Hartz-IV-Empfänger«, die um das christliche Abendland »besorgten Bürger« oder »wertkonservative Patrioten« usw. sind, die empfänglich für populistische Argumente sind, ist ergebnislos, weil sich von Populisten alle angesprochen fühlen, die der Sichtweise zustimmen können, dass die Eliten (=die Herrschenden) ihre Aufgaben nicht angemessen erfüllen. Auf diese Eliten kann man mit dem Finger zeigen, einzelne prototypische Personen herauspicken und charakterisieren (Musterbeispiel: George Soros, als »geldgeiler internationalistischer Jude«).


Zur Charakterisierung dieser Eliten werden dann Kataloge ihrer, von der Mehrheit der Bevölkerung abweichender, Verhaltensweisen und unterstellter oder tatsächlicher Werte aufgeführt: Sie sind nicht am Wohl des Volkes interessiert, keine Patrioten (da sie ein Netz von persönlichen oder geschäftlichen Kontakten und Freunden haben, das nicht an den Grenzen ihres Landes Halt macht), Mitglied internationaler Seilschaften und Geheimgesellschaften, beteiligen sich an Netzwerken von Verschwörern (welche die Welt schon längst unter sich aufgeteilt haben); sie kennen keine Heimat, sprechen fremde Sprachen, sind durch die intime Kenntnis fremder Kulturen in ihren Werturteilen relativistisch, offen für jede Veränderung, missachten jahrhundertealte Traditionen, schmeißen das Erbe ihrer eigenen Kultur auf den Mist, experimentieren mit unorthodoxen Familienformen, sind sexuell „pervers“ und wollen dies obendrein zur Norm erheben und in der Grundschule lehren; außerdem sind sie meist auch noch finanziell gut gestellt, sodass sie nicht die Sorgen der einfachen Leute kennen, wie sie mit ein paar Kröten durch den Monat kommen können; an der Religion haben sie auch nicht viel Interesse; sie finden den Schutz wandernder Kröten wichtiger als den von Menschen, dramatisieren die Veränderungen des Klimas und würden ohne Bedenken Tausende von Arbeitern in die Arbeitslosigkeit schicken, um ihrer Umweltschutzideologie zum Sieg zu verhelfen (usw).


Der interne Gegner (er wird üblicherweise nicht Feind genannt, weil das von einigen guten Bürgern als zu radikal erlebt werden könnte) hilft bei der Formung „des Volks“ als handelnder Gemeinschaft. Zum einen haben einige dieser Vorwürfe einen realen Kern: Es gibt Netzwerke von Mächtigen, die untereinander in Hinterzimmern, in Davos oder exklusiven Golfklubs Absprachen treffen, die für das Leben großer Teile der Bevölkerung gravierende Folgen haben. Und diese Zirkel der Macht sind tatsächlich teilweise hermetisch abgeschlossen, intransparent und nicht kontrolliert. Dieser reale Kern unterstützt die Glaubhaftigkeit und das Vertrauen Ihrer Basis in die Stichhaltigkeit populistischer Argumente.


Vor allem aber: All dies enthebt diejenigen, die sich auf die Interessen „des Volks“ berufen, von der Notwendigkeit, inhaltlich zu definieren, wer oder was denn dieses Volk sein soll. Um Mehrheiten zu gewinnen, reicht die Negativdefinition („Gegenidentität“) nicht nur, sie ist für jede populistische Strategie notwendig und unverzichtbar.


  


Das Volk der repräsentativen Demokratie vs. das Volk des Populismus


Über dem Haupteingang des Reichstagsgebäudes in Berlin, in dem heute der Deutsche Bundestag sein Zuhause gefunden hat, steht der Satz: „Dem deutschen Volk“.


Der Begriff „Volk“ wird also auch in der repräsentativen Demokratie verwendet. Aber er wird dort in einer anderen Form und mit einer anderen Bedeutung gebraucht.


Im Populismus wird das Volk stillschweigend als integrierte, undifferenzierte, nicht-zusammengesetzte Einheit vorausgesetzt und durch den Unterschied zu irgendwelchen, wie auch immer bestimmten, Umwelten definiert. Dadurch wird eine Konfliktlinie Volk/Nicht-Volk eröffnet. In der repräsentativen Demokratie wird hingegen das Volk als eine zusammengesetzte Einheit (vgl. Simon 2018, S. 31ff.) betrachtet, d.h. als ein System, das aus unterschiedlichen Subsystemen besteht, die unterschiedliche Interessen und Ziele verfolgen. Die Konfliktlinien, die daher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, sind daher überwiegend durch die internen Unterscheidungen definiert. Dabei werden die relevanten – potenziell feindlichen – Umwelten nicht geleugnet, aber sie sind nur eine von vielen Konfliktlinien. Die Institutionen der repräsentativen Demokratie haben daher die Funktion, („volks“-) interne Konflikte zu managen, d.h. für allgemein bindende Entscheidungen zu sorgen (Luhmann 2000, S. 84ff.), die im Idealfall für Befriedung innerhalb der Bevölkerung sorgen. Dazu werden die bestehenden Konflikte nicht geleugnet, sondern – ganz im Gegenteil – auf Dauer gestellt, so dass sie immer wieder aufs Neue entschieden werden müssen (vgl. Simon 2007, S. 117ff.). Der „Trick“ dabei ist, dass der strukturelle Konflikt jeden hierarchischen Systems zwischen „denen da oben“ und „denen da unten“ nicht entschieden wird, sondern auf eine paradoxe Weise aufgehoben wird: Es wird eine „verwickelte Hierarchie“ (Hofstadter 1979, S. 12) konstruiert, bei der die Beherrschten (= „die da unten“) bestimmen (durch regelmäßig abgehaltene Wahlen), wer die Herrscher sind (= „die da oben“). Durch die Form der verwickelten Hierarchie bzw. die Einführung von Zeit wird die Oben-unten-Unterscheidung relativiert bzw. ihre Dauerhaftigkeit durch die Möglichkeit der Oszillation, d.h. des Wechsels der hierarchischen Positionen, aufgehoben.


Wenn dieser Wechsel nicht mehr glaubhaft ist bzw. tatsächlich nicht mehr stattfindet, weil immer dieselben Leute oder Parteien („Eliten“) an der Macht sind, verliert – das dürfte eine der Erklärungen für den aktuellen Erfolg populistischer Akteure in der westlichen Welt sein – die repräsentative Demokratie ihre integrierende und Frieden stiftende Funktion. Die Aufrechterhaltung der Paradoxie, dass die Beherrschten die Herrscher bestimmen – und sich auch so erleben – ist dafür unverzichtbar.


 


Literatur:


Hofstadter, D. (1979): Gödel, Escher, Bach. Ein endloses Geflochtenes Ban. Stuttgart (Klett-Cotta) 1985.


Jullien, F. (1996): Über die Wirksamkeit. Berlin (Merve).


Luhmann, N. (2000): Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt (Suhrkamp).


Simon, F. B. (2007): Einführung in die systemische Organisationstheorie. Heidelberg (Carl Auer Verlag) 6. Aufl. 2017.


Simon, F. B. (2018): Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen. Heidelberg (Carl Auer Verlag).


Simon, F. B. (2019): Anleitung zum Populismus, oder: Ergreifen Sie die Macht! Heidelberg (Carl Auer Verlag).


Schmitt, C. (1932): Der Begriff des Politischen. Berlin (Duncker & Humblot) 6. Aufl., 1996.


Spencer-Brown, G. (1969): Laws of Form. New York (E.P. Dutton) 1979.


Spitz, R. (1957): Nein und Ja. Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Stuttgart (Klett) 1970.


Wittgenstein, L. (1952): Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. I. Frankfurt (Suhrkamp), 1984.