Putin oder die Funktion von Moral: Achtung/Verachtung, Ehre/Ehrverlust




Die gegenwärtige politische Situation scheint mir ein gutes Beispiel, um die Funktion von Moralkommunikation zu studieren. Moral stellt eines der informellen gesellschaftlichen Regelungssysteme dar, die – anders als gesetzlich festgelegte Normen – nicht einklagbar sind, aber dennoch große Wirkung erzielen.
Wer gegen bestimmte Regeln (Erwartungserwartungen) verstößt, muss damit rechnen, dass er die Achtung seiner Mitmenschen verliert. Im Extremfall erntet er sogar Verachtung. Analoges gilt für ein scheinbar antiquiertes Konzept: Ehre. Wer sich unmoralisch verhält, verliert den Anspruch, von anderen Leuten respektiert und geehrt zu werden. Wer sich verdient um das Gemeinwesen macht, wird geehrt (erhält „Orden“ und „Ehrenzeichen“). So gibt es in bestimmten Professionen mit eigenen „Ehrengerichtet“ (Ärzte, Anwälte...), die im Extremfall darüber entscheiden können, ob jemand noch dieser Profession nachgehen kann. Drohung ist die Ausgrenzung.
Das hat eine Wirkung auf das gezeigte Verhalten. Denn dieser Effekt wird natürlich nur erzielt, wenn solch ein Verhalten bekannt wird. Was niemand weiß, macht niemanden heiß! Mir scheint, dass Putin jetzt damit konfrontiert ist, dass er sich gegen – offenbar weit akzeptierte – moralische Regeln vergangen hat: Er hat einen Angriffskrieg begonnen (und das nicht gegen ein kleines Land wie Georgien, was er ja früher schon getan hat, aber „milde“ bzw. aus Opportunismus übersehen wurde).
Jetzt entsteht ein öffentlicher moralischer Druck, ihn das nicht weiter tun zu lassen und den „Opfern“ zu helfen. Putin bzw. Russland bzw. dessen Bevölkerung, das nicht zu Unrecht ebenfalls dafür verantwortlich gemacht wird, was sein Präsident tut, wird nun ausgegrenzt: aus Sportverbänden, den Institutionen der Finanzmärkte, dem internationalen Flugverkehr usw. – kein „anständiges Land“ bzw. keine „anständige Landesführung“ will mehr etwas mit den Russen bzw. Putin etwas zu tun haben (Ausnahme einige Präsidenten, die ebenfalls einen zweifelhaften Ruf habe: Bolsonaro, Xi Jinping usw.).
Offenbar wird generell die Wirkung von Ehre und Moral in unserer scheinbar so rationalen Zeiten generell unterschätzt, vor allem, was die Auslösung von Kriegen betrifft (s. mein vor 9/11 geschriebenes Buch „Tödliche Konflikte“).
Obwohl ich persönlich nicht zum Moralismus neige, scheint mir dies kein wirklich schlechtes Zeichen, wenn es um die Diagnose des Zustands der Welt geht...