Putin und Stalin

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel


Kein Mitglied der Nomenklatura wäre in der Lage gewesen, in die dank Personenkult und Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« übergroßen Fußstapfen Stalins zu treten, seine Stelle zu übernehmen und eine vergleichbare Macht zu erringen. Die größte Chance hatte aufgrund seiner Position als Chef des NKWD Lawrentij Berija. Doch da er in weiten Teilen der Bevölkerung und auch innerhalb der Partei für den Terror der Stalinzeit verantwortlich gemacht wurde, hatte er nur geringe Chancen dazu; der Widerstand ihm gegenüber war zu stark. Er wurde noch 1953 verhaftet und erschossen.


»Stalins Erben demontierten die Regierungsstruktur radikal, die dieser in den letzten Jahren seines Lebens geschaffen hatte. Das erweiterte ZK-Präsidium, das im Oktober 1952 auf seinen Befehl entstanden war, wurde mit einem Federstrich wieder abgeschafft. Das Büro des ZK-Präsidiums bekam neue Mitglieder: Molotow und Mikojan wurden wieder aufgenommen und Stalins junge Schützlinge ausgeschlossen. Im Wesentlichen bedeutete das die Rückkehr zu der kollektiven Führung, die einst das Politbüro ausgezeichnet hatte, aber unter einem neuen Namen. [...] Das neue System war so angelegt, dass es zahlreiche Gegengewichte gab, die den Aufstieg eines neuen Tyrannen verhindern sollten.«


Mit dem Tod Stalins hatte die Entstalinisierung begonnen, auch wenn sie erst 1956 mit Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU zur offiziellen Parteilinie erklärt werden sollte. In den Folgejahren wurde der Kalte Krieg fortgesetzt, die Welt war nach Blöcken in Ost und West geteilt – Warschauer Pakt vs. NATO – und zwischen den Fronten eine Reihe blockfreier Staaten. Jeder Versuch innerhalb des Ostblocks, von der Linie abzuweichen, die in Moskau festgelegt wurde, wurde mit Gewalt beendet (17. Juni 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei).


Das Wettrüsten überforderte die sowjetische Wirtschaftskraft. Als 1985 Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU wurde, tauchte die Drohung des Endes der Sowjetunion am Horizont auf. Es musste etwas geschehen. Gorbatschow initiierte Reformen (»Perestroika«, »Glasnost«), die mit einer zögerlichen (und ziemlich dilettantischen) Einführung von Marktprinzipien verbunden war. Die Folge waren Privatisierungen der sowjetischen Industrie in einer nicht geplanten Weise, die zur Plünderung der Ressourcen des Staates durch Jung-Kapitalisten (die Kreation der »Oligarchen«) führte.


1989 wurde die Berliner Mauer gestürmt, die Länder des Warschauer Pakts wie auch einige ehemalige Sowjetrepubliken erlangten ihre Unabhängigkeit, und 1990 kam es zur deutschen Wiedervereinigung. In Russland war die Lage chaotisch, die Wirtschaft schaffte den Übergang zu einer Marktwirtschaft nicht in der Weise, wie es die Planungen westlicher wirtschaftswissenschaftlicher Theoretiker und Berater an ihren Schreibtischen »vorhergesehen« hatten. Folgen waren eine Inflation von mehr als 400 %, leere Regale in den Läden, Versorgungsprobleme überall.


Im August 1991 kam es zu einem Putschversuch gegen den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow. Der Putsch wurde durch demonstrierende Massen in Moskau und durch entschlossenes Handeln des erst im Juni gewählten Präsidenten der Teilrepublik Russland, Boris Jelzin, verhindert. Für das nächste Jahrzehnt befand sich Russland in unruhigen Gewässern, denn Jelzin erwies sich nicht als der Kapitän, als der er in den Tagen des Putsches aufgetreten war. Die russische Gesellschaft befand sich über Jahre in einer chaotischen Situation, die Sehnsucht nach Ruhe, Berechenbarkeit und Sicherheit war nicht zu übersehen. Es begann die Zeit Wladimir Putins, des starken Mannes, der Ordnung schafft.


Der Apparat und Putin


Zu den Reformschritten, die Gorbatschow Ende der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts zu gehen versuchte, gehörte auch die Auflösung des KGB. Eine Aufgabe, die er Wadim Bakatin nach dem gescheiterten Putsch im August 1991 übertrug. Er berief ihn, einen früheren Innenminister, zum Chef des KGB. Bakatin schildert die gesellschaftliche Situation damals:


»Es herrschte völlige Ungewissheit in jeder Beziehung. Die Menschen wollten keine Versprechungen, dass es ›bis zum Herbst‹ oder in zwei Jahren besser wird, sondern ein straffes, wohlbegründetes fassliches Programm.«


Bakatin wollte aufräumen, zu einer neuen, verlässlichen Ordnung ohne Korruption beitragen. Aber er war ein Außenseiter, als er zum Chef des Geheimdienstes wurde. Und er hatte von Gorbatschow die paradoxe Aufgabe erhalten, seine organisationale Rolle und Macht zu nutzen, um diese mächtige Organisation aufzulösen. Bakatin bemühte sich ernsthaft und ehrlich, wie aus seiner Schilderung seiner Zeit im KGB hervorgeht. Aber es war naiv, sowohl von Gorbatschow wie auch von Bakatin, anzunehmen, dass eine Organisation mit der Tradition des KGB sich einfach so zu Grabe tragen lässt, wenn sie und ihre Mitarbeiter immer noch voller Saft und Kraft sind. Zu viele Akteure konnten dabei nur verlieren. Wenig verwunderlich, dass die Arbeitszeit Bakatins im KGB nur sehr kurz war: Es dauerte ziemlich genau vier Wochen, bis er wieder abgesetzt wurde, und niemand sprach anschließend mehr von der Abschaffung des KGB. Man begnügte sich mit milden Umstrukturierungen, der Aufspaltung in Inlands- und Auslandsdienste (FSB und SWR), aber die Netzwerke der Mitarbeiter blieben unversehrt. Einer von Bakatins Schlüssen aus seinen Erfahrungen als KGB-Chef:


»Nicht von strukturellen Umgestaltungen der Geheimdienste hängt heute die Sicherheit der Bürger, der Gesellschaft, der Demokratie ab. Eher umgekehrt. Diese permanenten Umgestaltungen bergen Gefahren in sich. Sie untergraben die Disziplin, befördern Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit und führen dazu, dass Profis auf der Strecke bleiben.«


Doch die Profis blieben nicht auf der Strecke, sondern die Sicherheit der Bürger, der Gesellschaft und der Demokratie; denn trotz aller Umgestaltungen blieb der Geheimdienst das, was er immer war: eine Organisation, deren Zweck der Erhalt der Macht war und ist. Und wenn es keine Machthaber gibt, die sich dieses Apparats bedienen, dann ist der Apparat auch selbstgenügsam, sorgt für den Erhalt der eigenen Macht und sucht sich jemanden, der für ihn als formaler Machthaber fungieren kann. Dazu braucht er eine Person – irgendeine Person –, die er der Öffentlichkeit zum Zweck der »Unsicherheitsabsorption«, der Funktion von Personen als Entscheidungsprämissen, präsentieren kann.


Als diese Person wurde, etwa um die Jahrtausendwende herum, Wladimir Putin ausgewählt. Die Sowjetunion hatte aufgehört zu existieren, aber die Tscheka (auch wenn sie jetzt anders hieß) lebte weiter. In einer bemerkenswerten Studie hat Catherine Belton die Rolle des KGB beim Aufstieg Wladimir Putins minutiös analysiert.


Der KGB hatte sich auf das Ende der Sowjetunion schon jahrelang vorbereitet, da deutlich war, dass deren Wirtschaftssystem nicht konkurrenzfähig mit den westlichen Marktwirtschaften war. Man hatte junge Leute (wie Michail Chodorkowksi) auf die Rolle des Unternehmers vorbereitet, Auslandsfirmen gegründet, sich an der Verschiebung von Waren und Geldwäsche beteiligt und Vermögenswerte ins Ausland transferiert. Die unter Gorbatschow ermöglichten Privatisierungen wurden von diesen jungen Männern genutzt, um den Staat auszuplündern; sie wurden die berüchtigten Oligarchen, die unvorstellbare Reichtümer anhäuften, ohne sich um ihre alten Mentoren im KGB weiter zu kümmern. Das führte zu Aktivitäten der KGB-Mitarbeiter im Ausland – wie von Wladimir Putin in Dresden –, die darauf sannen, nicht nur ein Stück vom Privatisierungskuchen abzubekommen, sondern auch die Uhren zurückzudrehen und wieder an die Macht zu kommen.


Ehe Putin an die Macht kam, dauerte es ein paar Jahre. Über Zwischenstufen in Petrograd, wo Putin Vize-Bürgermeister wurde und ökonomisch sehr erfolgreich mit der örtlichen Mafia kooperierte, gelangte er auf den Posten des FSB-Chefs, d. h. des Inlandsgeheimdienstes. Schließlich gelang es seinem Netzwerk, ihn als Ministerpräsident unter Jelzin zu etablieren. Niemand kannte ihn, er galt als blasser Bürokrat.


Als in Moskau mehrere Wohnblocks in die Luft gesprengt wurden, geriet die Bevölkerung in Panik, und der bis dahin so konturlose Putin konnte sich als starker Mann der Tat profilieren. Die »Schuldigen« waren schnell identifiziert. Putin ließ Grosny, die Hauptstadt Tschetscheniens, bombardieren, um die Hunderte unschuldiger Toter zu rächen. (Alle, die den Gerüchten, dass diese Sprengungen das Werk des FSB waren, auf den Grund gehen wollten, sind entweder »überraschend gestorben« oder verhaften worden.)


Jelzin trat zurück und übergab Putin, dem starken Mann, die Präsidentschaft und glaubte offenbar, er würde die Demokratisierung Russland weitertreiben:


»Aber im Grunde reichte er die Macht an den komitetschik weiter, den die Elite des Auslandsgeheimdienstes zum Vorkämpfer erkoren hatte – eben jene Elite, die ursprünglich die Öffnung der Sowjetunion für die Märkte eingeleitet hatte, weil sie erkannt hatte, dass das Land nur durch einen Wandel überlebensfähig war.«


Allerdings – um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – war Putin zwar Präsident geworden, aber der KGB hatte wieder die Macht übernommen. Denn die Netzwerke der Geheimdienste und Geheimpolizei waren überlebensfähig und -willig, d. h. entschlossen, die Macht zurückzugewinnen. Mit den Worten Thomas Grahams, des ehemaligen Russlandverantwortlichen im Nationalen Sicherheitsrat der USA:


»Die privaten Netzwerke verschwanden nicht. Was sie brauchten, war schlicht und einfach jemand, der diese Netzwerke wieder zusammenführen konnte. Das war die Zukunft. Wäre es nicht Putin gewesen, hätte es einen anderen gegeben.«


Aus organisationstheoretischer Sicht ist anzumerken, dass es sich wohl kaum um private Netzwerke handelte, denn es waren Funktionäre des KGB, die diese Netze bildeten. Auch wenn der KGB formal seine Struktur und seinen Namen geändert hatte, so existierten er als Organisation bzw. seine Organisationseinheiten weiter. Und in Organisationen sind die Personen als Funktionsträger nun einmal austauschbar. Das galt auch für Putin und die formale Rolle und Funktion des Chefs. Dass Geheimdienste in besonderer Weise auf die Personenorientierung der Kommunikation setzen, ergibt sich schon aus der Notwendigkeit der Geheimhaltung eines großen Teils der eigenen Operationen (z. B. durch Netzwerke von Informanten und Agenten im Ausland). Die linke Hand darf oft aus Sicherheitsgründen nicht wissen, was die rechte tut. Die Kommunikationswege sind hoch selektiv, und niemand erfährt mehr, als er oder sie unbedingt wissen muss ...


Die Personenorientierung der Kommunikation – nun aber mit der Bevölkerung, die Sicherheit und Ordnung suchte, als Adressat – war auch die Grundlage der folgenden Wahlsiege Putins. Doch für diese Wahlerfolge dürfte weniger die psychische Struktur Putins verantwortlich gewesen sein, als das Bild, das die Propaganda von ihm gezeichnet hatte (und bei dem Versuch, wieder einen Personenkult zu etablieren, immer noch zeichnet).


Wenn wir die Leitfrage der vorliegenden Studie nach dem Verhältnis psychischer und sozialer Strukturen im Blick auf Putin und Russland zu beantworten suchen, dann ist klar, dass bis zur Machtübernahme Putins seine Psychodynamik für Russland keine Rolle gespielt hat. Aber wie generell, so gilt auch für seine Mitgliedschaft im KGB: Organisationen suchen sich Mitarbeiter, die zu ihnen (ihrer Aufgabe, ihrer Struktur, ihrer Kultur) passen, und Individuen suchen sich Organisationen als Arbeitgeber, die zu ihnen (ihrer psychischen Struktur, ihrer Persönlichkeit, ihrer persönlichen Identität) passen. Das dürfte auch bei Putin der Fall gewesen sein. Sein bereits als Schüler geäußerter Wunsch, in den Geheimdienst einzutreten, weist darauf hin, dass er das Potenzial zum Aufstieg in eine mächtige Position durch Mitgliedschaft in einer mächtigen Organisation bereits in frühen Jahren erfasst hatte. Seine Hoffnungen dürften mit dem Ende der Sowjetunion erst einmal zerplatzt sein. Doch der KGB existierte weiter, und damit auch die Voraussetzung für seinen Aufstieg. Was die chaotischen Verhältnisse in der untergehenden Sowjetunion und dem neu entstehenden Russland betrifft, so waren sie nicht dem KGB zuzuschreiben. Aber dass Putin und das Netzwerk des KGB etwa zehn Jahre nach Ende der Sowjetunion wieder an die Macht gekommen sind und seither – schleichend – die Strukturen der russischen Gesellschaft in ihrem Sinne beeinflusst haben und weiter beeinflussen, ist unbestreitbar. Und seit Putin an der Macht ist, stellt sich die Frage, inwieweit seine Psychodynamik, sein Denken und Fühlen, sein Charakter, seine Weltsicht die Politik Russlands und damit der Welt bestimmt, erneut. Es stellt sich aber auch die Frage, inwieweit durch die gewonnene Macht sich die psychische Struktur Putins verändert hat. Spätestens hier zeigen sich Parallelen in der Entwicklung von Putin und Stalin.


Ausblick


Wer Putin verstehen will, muss Stalin verstehen. Und weder Stalin noch Putin bzw. ihren Aufstieg und ihre politische Wirkung kann man erklären, wenn man von der Funktion und Wirkung des Apparats der Geheimpolizei und Geheimdienste und aller sogenannter Sicherheitskräfte in Russland abstrahiert. Es besteht in beiden Fällen eine Ko-Operation zwischen dem Herrscher und dem Apparat, der ihn an die Macht bringt und ihn an der Macht hält. Denn diese Machthaber sichern – das ist eine Form der Gegenseitigkeit – dem Apparat seine Funktion und Macht. Das Beispiel Putins und des KGB zeigt, dass – anders als Max Weber es definierte – auch der Apparat sich den passenden Herrscher suchen kann. Ob das Beispiel Stalins im Blick auf die Kopplung von psychischen und sozialen Systemen zu verallgemeinern und auf alle Diktatoren und Diktaturen zu übertragen ist, muss hier offenbleiben. Eine – sicher gewagte – Hypothese drängt sich aber auf, dass die russische Kultur Besonderheiten zeigt, die mit einer Empfänglichkeit für autoritäre Strukturen verbunden ist. Mit den Worten Wladimir Putins:


»Für die Russen ist ein starker Staat keine Anomalie, die es loszuwerden gilt. Ganz im Gegenteil – sie betrachten ihn als Quelle und Garanten der Ordnung und als Initiator und Treibkraft jedes Wandels.«


Dass Personen wie Stalin und Putin dabei in Russland stets eine wichtige Rolle spielten, zeigt der Blick in die Geschichte. Schon Zar Ivan IV., genannt »der Schreckliche«, personifizierte den starken Staat. Seine Macht sicherte er durch die »Opritschniki«, das der damaligen Zeit gemäße Analogon zur Tscheka bzw. den Tschekisten. Auch damals meinte man ihn und seinen Charakter, seine Psyche, als Ursache für die Schrecklichkeiten, die damals vom starken Staat, von der Opritschina, begangen wurden, erkannt zu haben. Interessanterweise, aber auch merkwürdigerweise, wird Ivan ganz ähnlich beschrieben wie Stalin:


»Je mehr ihn das Bewusstsein von der Erhabenheit seines herrscherlichen Amtes und von der unbeschränkten Macht, die ihm nach der Lehre der Josifljanen als Selbstherrscher zustand, erfüllte, desto tiefer mussten ihn die Demütigungen verwunden, denen er ausgesetzt war. Der Keim eines unüberwindlichen Misstrauens war früh in ihn gelegt; es sollte sich zum alles beherrschenden Wesenszug des Tyrannen entwickeln und schließlich alle Beziehungen zu Menschen zerstören. Jeder Untertan einschließlich der nächsten Verwandten wurde zum potentiellen Gegner. Sein Leben lang hat Ivan IV. vergeblich die Werkzeuge seiner Macht gesucht, denen er wirklich vertrauen konnte. Dem Selbstbewusstsein entsprach nicht Selbstsicherheit, sondern innere Unsicherheit und Angst; daraus ergab sich ein ständiges Schwanken zwischen den Extremen sinnlos grausamer Machtexzesse und tiefer Depressionen reuevoller Zerknirschung.«


Die Parallelen zu Stalin sind deutlich. Auch bei ihm soll der Tod einer geliebten Frau dazu geführt haben, dass er so grausam wurde. Nun kann man bei Ivan dem Schrecklichen nicht annehmen, dass es seine psychischen Qualitäten waren, die ihn an die Macht brachten, da er seine Machtposition ererbt hatte. Das mag ein Indiz dafür sein, dass es die Macht war, die dazu beigetragen hat, dass sich sowohl Stalins als auch Ivans psychische Strukturen in der beschriebenen – schrecklichen – Weise entwickelt haben. Die tyrannische Macht der Herrscher, ob nun Ivan oder Stalin, wie auch ihre »Schrecklichkeit« sind in einem spezifischen kulturellen Umfeld entstanden, das möglicherweise beides befördert hat. An dieser Stelle ist der Reisebericht des Marquis de Custine interessant, der im Jahre 1839, zur Zeit des Zaren Nikolaus I., Russland besuchte. George F. Kennan, Geschichtsprofessor in Princeton, in den 30er-Jahren als Diplomat in Moskau und bis 1952 Botschafter der USA in der Sowjetunion, hat Custines Bericht ausgegraben und – fasziniert durch die Ähnlichkeiten der russischen Gesellschaft zu Zeiten Nikolaus I. und Stalins – in einem eigenen Buch analysiert. Ein paar Zitate Custines legen nahe, dass sich hier gesellschaftliche Verhältnisse über 100 Jahre erhalten haben und möglicherweise auch die Zukunft Russlands weiter prägen könnten:


»Dinge, die ich andernorts bewundere, hasse ich hier. [...] Ich finde sie zu teuer bezahlt: Ordnung, Geduld, Ruhe, Eleganz, respektvolles Verhalten, die natürlichen und moralischen Beziehungen, die zwischen denen bestehen sollten, die denken, und denen, die handeln; kurz gesagt, alles, was gut organisierten Gesellschaften Wert und Charme verleiht, alles, was politischen Institutionen Sinn und Zweck verleiht, ist hier abhandengekommen und aufgegangen in einem einzigen Gefühl – der Angst.«


Und Custine schreibt weiter, nun über die »Psychologie der Russen«:


»Im Umgang mit einem Volk, das durch Terror abgehärtet ist, wird Gnade als Schwäche gesehen; nichts entwaffnet solch ein Volk außer Angst; unnachgiebige Strenge zwingt es auf die Knie; Erbarmen verleitet es im Gegensatz dazu, das Haupt zu erheben; man wüsste nicht, wie es zu überzeugen ist; man kann nichts Anderes tun, um es unter Kontrolle zu bringen; unfähig zu Stolz, ist es doch fähig zur Kühnheit; es revoltiert gegen Milde, aber gehorcht der Grausamkeit, die es für wahre Stärke hält.«


Wenn man über die Jahrhunderte die Geschichte des russischen Imperiums verfolgt, so fällt ein zeitliches Muster auf. Phasen der autoritären Herrschaft und Friedhofsruhe, die sich auf Terror und Angst stützen und die Freiheit des Volkes extrem einengen, wechseln sich mit Phasen der Anarchie, des Chaos und der Unsicherheit ab. Die chaotischen Phasen, so könnte man sagen, wecken den Ruf nach dem starken Herrscher, der Ordnung schafft; und die von ihm geschaffene rigide Ordnung hat zur Folge, dass der Ruf nach Freiheit laut wird. Es scheint ein Alles-oder-Nichts-Muster Ordnung vs. Chaos zu bestehen, eine Oszillation zwischen Tyrannei und Anarchie. Die Ambiguitätsintoleranz, die ein Merkmal Stalin’schen Denkens und Fühlens gewesen zu sein scheint, findet sich auch in den kulturellen Mustern und der Geschichte Russlands. In den Phasen der Tyrannei gewinnt die Geheimpolizei an Gewicht und Macht, um in den Phasen der Anarchie wieder vorübergehend an Bedeutung und Wirkung zu verlieren. Aber das ist nur eine Zeit des Atemholens, der Reorganisation, eine Pause, ohne dass dabei die Geheimpolizei um die eigene Existenz fürchten müsste.


Spätestens wenn der Ruf nach dem starken Herrscher ertönt und er »gebraucht« wird, dann findet der Geheimdienst einen, der das Talent dazu hat (Größenselbst etc.). Wenn er das Talent nicht hat, dann überzeugen ihn über die Zeit seine Erfahrungen als autoritärer Machthaber von seiner eigenen Großartigkeit. Die erlebte Realität seiner nahezu unbegrenzten und nur von seiner Willkür bestimmten Handlungsmöglichkeiten sorgen dafür, dass sich auch sein psychisches System an seine autoritäre Macht anpasst. Der Apparat spielt dabei die entscheidende Rolle. Er ist der entscheidende Stabilitätsfaktor im Land, denn er steht für die gesellschaftliche Kontinuität in unterschiedlichen Phasen der russischen Geschichte und für das Oszillationsmuster zwischen Chaos und rigider Ordnung. Es ist das Muster, welches das Zarenreich mit dem Sowjetimperium und dem Russland von heute verbindet.


Was Stalins und Putins oder auch der Zaren psychische Strukturen betrifft, so hatte Karl Marx offenbar recht, als er feststellte: »Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.«


Dies scheint zumindest für autoritäre Führer an der Spitze der Hierarchie zu gelten. Doch das ist nur die eine Hälfte des Zirkels einer verwickelten Hierarchie: Das Beispiel Stalins und anderer Diktatoren belegt, dass das Bewusstsein das gesellschaftliche Sein (nicht nur eines Individuums, sondern ganzer Völker) bestimmen kann, falls der Besitzer dieses Bewusstseins hinreichend mächtig ist. Und es sind immer Apparate, d. h. Organisationen des Machtgewinns und Machterhalts, die dabei eine zentrale Funktion besitzen, denn Diktaturen wie Diktatoren sind auf sie angewiesen.


So lässt sich, was Trotzki über Stalin gesagt hat, auch über Wladimir Putin sagen: Putin riss die Macht an sich, nicht aufgrund persönlicher Leistungen, sondern mithilfe eines unpersönlichen Apparats. Und es war nicht er, der diesen Apparat geschaffen hat, sondern der Apparat hatte ihn geschaffen.




Andreas Kynast und Fritz B. Simon zu Stalin und der Apparat. Die Organisation der Diktatur und die Psyche des Diktators