Rechts vs. links?

»Die Benennung unterschiedlicher politischer Richtungen mit „rechts“ und „links“ hat ihre Wurzeln in der Sitzordnung der verfassunggebenden französischen Nationalversammlung 1789. Auf der linken Seite saßen die radikaleren republikanischen Deputierten, auf der rechten Seite die immer noch mit der Monarchie sympathisierenden Abgeordneten. Eine politische Geografie, deren Richtungen im Prinzip unverändert geblieben sind, auch wenn sich die konkreten Inhalte, um welche die politischen Auseinandersetzungen heute stattfinden, gewandelt haben.

In der Gegenwart werden (nach einer Studie von Elisabeth Noelle-Neumann (1995) im Allgemeinen folgende Bedeutungen mit „rechter“ und „linker Politik“ bzw. den Werten und Ziele „der Rechten“ und „der Linken“ assoziiert. Sie lassen sich schlagwortartig in etwa folgendermaßen charakterisieren:


„rechts“:


Unterschiedlichkeit als hoher Wert,

an Hierarchie orientiert,

distanziert, formell,

emotional kalt,

diszipliniert,

Freiheit bedeutet: keine Einschränkung des Individuums durch den Staat,

Initiative, Wettbewerb,

Eigenverantwortung/Risiko des Einzelnen,

Nationalismus


„links“:


Gleichheit als hoher Wert, antiautoritär,

nah, informell,

emotional warm,

spontan,

Freiheit bedeutet: Sicherheit und Geborgenheit durch den Staat

Planung, Regulierung, Kontrolle,

Gesellschaft ist verantwortlich für das Wohl des Einzelnen, Internationalismus


Aus einer systemtheoretischen Perspektive ist keine der beiden Richtungen im Blick auf die Überlebensfähigkeit sozialer Systeme allein rational, ja, es erscheint nicht einmal sinnvoll, sie aus ihrem Zusammenhang zu reißen. Denn soziale Systeme sind antagonistisch organisiert, d.h. es müssen stets gegensätzliche Tendenzen der Art balanciert werden, wie sie durch die dargestellten Begriffe benannt werden (Morin 1977).


Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass rechts und links als politische Richtungen eine Einheit bilden, wobei die eine Kontext der anderen ist und beide sich gegenseitig hervorbringen. Erst als Unterscheidung zu dem, was mit „links“ gemeint und intendiert ist, gewinnt „rechts“ seinen Sinn und umgekehrt. Es handelt sich um die zwei Seiten derselben Unterscheidung, jede Verabsolutierung der einen Seite ohne Bezug zur anderen Seite ist sinnlos, und der Konflikt zwischen beiden Seiten ist paradox, weil es die eine ohne die andere nicht gäbe. Bei den mit „rechts“ oder „links“ kategorisierten Werten geht es stets um Fragen der Beziehungsgestaltung zwischen Individuen bzw. Bevölkerungsgruppen und –schichten. Beziehungen kann man bekanntermaßen nicht einseitig definieren.


An den in der Noelle-Neumannschen Studie genannten Dimensionen lässt sich die Wechselbeziehung und gegenseitige Abhängigkeit/Definition von „rechts“ und „links“ leicht illustrieren:


Die Frage der Gleichheit von Menschen stellt sich erst, wenn bzw. wo ihre Ungleichheit und die ihrer Lebensbedingungen und –chancen wahrnehmbar ist. Wo Gleichheit oder Ungleichheit praktiziert wird, kann es zu Konflikten über ihre Herstellung oder Beseitigung kommen. Wenn es unter Gleichen zu Konflikten kommt, wird fast zwangsläufig der Ruf nach einer hierarchisch übergeordneten Autorität laut, welche die Schiedsrichter- oder Entscheider-Rolle übernimmt. Unterschiede des Rangs schaffen aber in der Regel persönlichen und emotionalen Abstand, was wiederum als Hintergrundfolie für das Erleben emotionaler Nähe unter Gleichen fungiert. Ja, angesichts der Tatsache, dass alle Menschen einerseits ja sehr verschieden sind, aber andererseits auch wieder ziemlich gleich, wird oft erst durch das Erleben von hierarchischen Unterschieden der Fokus der Aufmerksamkeit auf die Gleichheit derer gelenkt, die auf derselben Hierarchieebene agieren. Informalität setzt das Bewusstsein von Formen voraus. Spontaneität braucht Disziplin, wenn die durch sie freigesetzte Energie nicht als sterile Aufgeregtheit verpuffen soll. Die Sicherheit und Geborgenheit, die ein Staat gewährleisten kann, ist darauf angewiesen – zumindest heute –, dass die Bürger als autonome Individuen mitspielen, initiativ werden und ihm die dafür nötigen Ressourcen in Form von gezahlten Steuern, bürgerschaftlichem Engagement usw. zur Verfügung stellen. (Wie man am Beispiel Griechenlands sieht, ist es nicht selbstverständlich, dass die Initiative der Bürger in diese Richtung geht.) Planung und Kontrolle sind immer begrenzt durch die Unmöglichkeit, menschliche Individuen von außen geradlinig zu steuern. Es gibt nun mal keine „instruktive Interaktion“ zwischen „strukturdeterminierten“, „autopoietischen Systemen“( vgl. Maturana 1978; 242f.). Der Reichtum des Staates steigt mit dem Reichtum seiner Bürger. Und auch wenn der Staat viel Verantwortung für das Wohl des Individuums hat, weil er Rahmenbedingungen schaffen kann, die seinen Bürgern das Leben leichter oder schwerer machen können, enthebt dies das Individuum angesichts der begrenzten Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten des Staates nicht der Eigenverantwortung. Und schließlich besteht auch kein prinzipieller Gegensatz zwischen der Übernahme globaler Verantwortung und einem Bewusstsein nationaler Interessen, denn kein Staat kann sich isolieren gegenüber den Geschehnissen im Rest der Welt...


Ordnet man die Rechts-links-Unterscheidung bzw. die oben genannten inhaltlichen Spezifizierungen als Tetralemma, so sind die aus systemischen Modellen ableitbaren Richtungsentscheidungen nicht dauerhaft im Sinne von rechts oder links zuzuordnen, denn es geht immer um die Balancierung gegensätzlicher, sich im Sinne der zweiwertigen Logik ausschließender Ziele und Tendenzen. Über die Zeit müssen beide Richtungen realisiert werden. Soziale Systeme sind ambivalent organisiert, so dass jede dauerhafte Realisierung „rechter“ oder „linker“ Tendenzen problematische – irrationale – Folgen für das Gesamtsystem hat, d.h. dessen Überlebensfähigkeit wird dadurch bedroht. Das ist einer der Gründe, warum in der Geschichte linke wie rechte Diktaturen – auch ohne kriegerische Interventionen von außen – eine nur begrenzte Lebensdauer haben. Sie gehen an ihrem Mangel an internen Konflikten zugrunde...«


(aus: "Wenn rechts links ist und links rechts", S. 247f.)