Systemische Gruppendynamik (2) - Die Fragen

Lieber Fritz Simon,


Tom Levold hat kürzlich Ihren Beitrag (mit Roswitha Königswieser und Rudolf Wimmer) Back to The Roots? aus der OE im systemagazin publiziert und da sind mir ein paar Dinge in Ihrer gemeinsamen Vorbemerkung und in Ihrem Beitrag aufgefallen, die ich noch nicht verstehe und/oder nachvollziehen kann, so dass ich dachte, ich frage einfach einmal nach.


1.

Sie sprechen einleitend von systemischer Gruppendynamik, dann wieder von Gruppendynamik, doch habe ich an keiner Stelle etwas gelesen, was mir hilft, den Unterschied, den Sie zwischen Gruppendynamik und systemischer Gruppendynamik machen, zu begreifen. Mir kam es so vor, als wäre es dasselbe, lediglich gelegentlich (und durchaus nicht an jeder Stelle) durch das zusätzliche Adjektiv "systemisch" ergänzt.


2.

Auf S. 65 schreiben Sie (Drei) sinngemäß, dass die Tl eine Woche Zeit haben, die Entwicklung der Gruppe

(nämlich der, die da mehr oder weniger zufällig zusammengekommen ist) zu erleben. Ich frage mich, wozu? Was

ist das Ziel? Oder steckt dahinter die Idee, dass jede Gruppe sich gewissermaßen gleich entwickelt? So im

luftleeren, abgeschotteten Lernraum? Was bedeutet denn dieser andere Kontext? Und was bedeutet das für den

Arbeitsalltag der Gruppenmitglieder? Ich habe das nicht verstanden.


3.

Es heißt (S. 65), das "Besondere" soll sein, dass die "sonst übliche Trennung von Erleben (Emotion) und Erkennen (Kognition) aufgehoben ist". Das fällt mir schwer, nachzuvollziehen, denn ich begreife jede Person als Ganzheit, also so, dass diese beiden Aspekte (und es könnte noch mehr Aspekte geben...) niemals getrennt sind - allerdings unterschiedlich beachtet werden können, aber das wäre in meinen Augen etwas ganz anderes. Letztlich begreife ich Ihre Unterscheidung so, dass Sie meinen, dass sich Emotion und Kognition tatsächlich trennen lassen.


Nach meinem Verständnis bin in jedem Prozess zu jeder Zeit als fühlender und erkennender (und vielleicht auch noch mehr)Mensch enthalten. Was eine solche Aufsplittung unmöglich machen würde - natürlich nicht die jeweilige Aufmerksamkeitsfokussierung, aber um die geht es Ihnen nicht, denn sonst hätten Sie das so gesagt.


Nach meiner Interpretation würde Ihre Aussage darauf hinauslaufen, dass es möglich sei, Emotion und Kognition tatsächlich zu trennen.


4.

Wenn, wie Sie schreiben, dass die "Perspektive erweitert" werden soll, der "Zusammenhang zwischen den aktuellen Problemstellungen in Wirtschaft und Gesellschaft und den Lernzielen der systemischen Gruppendynamik" verdeutlicht werden soll (S. 65), dann werden nach meinem Verständnis hier zwei unterschiedliche Kontexte benannt, ohne dass deren Unterschiede und/oder Gemeinsamkeiten benannt würden. Wenn z.B. Wirtschaft darauf angelegt ist, Wachstum und Profit zu verbessern, dann wäre doch zumindest das zu thematisieren, denn dann ginge es immer auch darum, diese Ziele mit zu beachten - und die dürften sich in Hinblick auf Wirtschaft und Sozialwesen Mensch nicht immer als identisch erweisen.


Und wenn Sie dann die Sachebene der Kommunikation von der Beziehungsebene unterscheiden, so fehlt mir der Kontext - denn es geht hier um Führungskräfte, Entscheidungsträger, die als Mitglieder ihrer Institution/Organisation auch (oder vor allem?)ökonomische Interessen zu vertreten haben, denn anderenfalls würden sie dem Ziel der Institution/Organisation ("Überleben", d.h. kein Konkurs) kaum gerecht werden. Anders gesagt, eine Ausblendung der sozialen und politischen Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit scheint mir irgendwie wenig vermeidbar, wird, so wie ich es verstehe, in diesem Beitrag nicht angesprochen.


5.

Dann kommt die T-Gruppe (S. 66) als "Renaissance dieses Lernsettings als 'systemische Gruppendynamik'" - ja, eine wunderbare Setzung, die in meinen Augen in dieser Präsentation keinerlei theoretischen Hintergrund hat. Da könnte ich auch die analytische Selbsterfahrung in einem Gruppenkontext als systemische Selbsterfahrung oder als systemische Gruppendynamik propagieren. Das vermag ich so nicht nachzuvollziehen.


6.

Sie unterscheiden dann Gruppe von Organisation, wobei eben der Organisation "Strukturen" zugeschrieben werden - als ob die Gruppe nicht auch welche hätte (das hängt nach meinem Verständnis von der Unterscheidung der BeobachterIn ab)... Und es ist die Rede von "Rationalität der Organisation", also ein Anthropozentrismus, denn ein "Ding" - eine Beschreibung einer (leblosen) Sache kann nach meinem Verständnis kaum rational sein. Wie heißt es bei Systemikern: you cannot kiss a system. Und was dann folgt, könnte ich genauso gut auf Gruppen übertragen. Und Ihre "sicher verkürzende Formel ... In der Organisation passt sich im Zweifel der Einzelne den vorgegebenen sozialen Strukturen an", finde ich tatsächlich zu verkürzt: Es geht hier nach meinem Verständnis um Betriebe, um (Profit-) Wirtschaft. Da passt sich der Einzelne kaum an, er muss es, um das materielle Überleben zu sichern. Aber das fiele aus einer objektivierenden Sprache einfach heraus. Ich könnte pointiert sagen: hier ist die Rede vom sozialen Wesen (Mensch) in asozialen Organisationen (etwa Opel und Entlassungen).


7.

Und dann benennen Sie das "Paradoxie-Bewusstsein" - Inhalts- und Beziehungsaspekte muss - wer? Klar! - der Leiter (also der Chef) so organisieren, dass eine symmetrische Kommunikation möglich ist. Da frage ich mich, wie das aussehen soll in einer hierarchischen Betriebsorganisation, wo der Chef Chef bleibt, egal welches konkrete Verhalten er zeigt. Da scheint mir die konstruierte Wirklichkeit einer hierarchischen Organisation (Unternehmen) zu sehr ausgeblendet - das, was Sie vorher als Struktur der Organisation beschrieben haben, gegen die dann auch ein Chef "nicht wirklich" verstoßen kann.


Ja, das waren so ein paar der Unklarheiten, die mir beim Lesen kamen. Ich würde mich freuen, wenn ich dazu von Ihnen eine Rückmeldung erhalten würde.


Danke - im voraus.


Mit friedlichem Gruß


Jürgen Hargens