Systemische Gruppendynamik (3) - Die Antworten

Lieber Herr Hargens,


am besten ich schreibe meine Antworten direkt in Ihre Fragen...


--


"1. Sie sprechen einleitend von systemischer Gruppendynamik, dann wieder von

Gruppendynamik, doch habe ich an keiner Stelle etwas gelesen, was mir hilft,

den Unterschied, den Sie zwischen Gruppendynamik und systemischer

Gruppendynamik machen, zu begreifen. Mir kam es so vor, als wäre es dasselbe,

lediglich gelegentlich (und durchaus nicht an jeder Stelle) durch das

zusätzliche Adjektiv "systemisch" ergänzt."


--


-- Ihre Frage ist berechtigt, und es stimmt, dass wir das nicht explizit definiert haben. Zunächst ist das Setting der gruppendynamischen Trainingsgruppe erst mal nicht anders, ob es sich nun um systemische oder nicht-systemische Gruppendynamik handelt.


Der Unterschied besteht in der Interventionsweise des Trainers und den theoretischen Grundlagen, die seine Beobachtung und schließlich auch seine Interventionen leiten. Die Fokussierung liegt auf der Entwicklung der Kommunikationsmuster und der Weise, wie jeder Teilnehmer darauf Einfluss nimmt (warum auch immer). In der klassischen Gruppendynamik wird implizit und explizit von einer Analogie der der Entwicklung der

psychischen Entwicklung des Individuums und der Entwicklung der Gruppe (als Addition ihrer Mitglieder bzw. ihrer Psychodynamik) ausgegangen. In der systemischen Gruppendynamik wird die Psyche jedes Teilnehmers als relevante Umwelt der sich entwickelnden sozialen (= Kommunikations-)Struktur der Gruppe definiert. Das Interesse gilt dabei weniger der Psychodynamik, da sie keine determinierende Wirkung auf die Gruppenstruktur hat, sondern der sich entwickelnden sozialen Struktur.


In der Praxis hat diese Sichtweise radikal andere Interventionsweisen zu Folge gegenüber dem klassischen Modell.


--


"2. Auf S. 65 schreiben Sie (Drei) sinngemäß, dass die Tl eine Woche Zeit haben,

die Entwicklung der Gruppe (nämlich der, die da mehr oder weniger zufällig

zusammengekommen ist) zu erleben. Ich frage mich, wozu? Was ist das Ziel? Oder

steckt dahinter die Idee, dass jede Gruppe sich gewissermaßen gleich

entwickelt? So im luftleeren, abgeschotteten Lernraum? Was bedeutet denn

dieser andere Kontext? Und was bedeutet das für den Arbeitsalltag der

Gruppenmitglieder? Ich habe das nicht verstanden."


--


-- Dahinter steckt nicht die Idee, dass alle Gruppen gleich verlaufen, sondern dass alle Gruppen dieselben Fragestellungen (oder, wenn man will: Probleme) zu lösen haben. Wie grenzen sie sich gegen ihre sozialen Umwelten ab (z.B. als Team in einer Organisation), wie definieren die Teilnehmer ihre Beziehung zueinander - vor allem, wie wird immer wieder Symmetrie hergestellt, da Gruppen dauerhafte Asymmetrien nicht aushalten -, wie findet jeder eine Position in der Gruppe, in der er sich in seiner Funktion als integriertes und wertgeschätztes Mitglied sicher fühlt, und - last not least - wie einigt sich die Gruppe über ihren Existenzgrund. Denn Gruppe ist eine Sozialform, die spontan nur extrem selten vorkommt, und für deren Spielregeln wir in unserer Durchschnittsozialisation kein Verhaltensrepertoire erwerben. Gruppen unterscheiden sich prinzipiell und gravierend sowohl von Familien als auch Organisationen (beides Typen sozialer Systeme, mit denen man auch im Alltag Erfahrungen sammelt). Das hat vor allem mit ihrer Schwierigkeit im Umgang mit Hierarchie zu tun (=dauerhafte Asymmetrie).


Also: Jede Gruppe entwickelt sich anders, aber alle haben dieselben Hausaufgaben zu erledigen, um gemeinsam intelligenter entscheiden zu können als jeder der Teilnehmer allein... Das braucht man nicht immer. Aber heute, in einer immer komplexeren und weniger durchschaubaren Welt, erweisen sich Gruppen als Möglichkeit der Entwicklung einer kollektiven Intelligenz, die spontan nicht gegeben ist. Wie bindet man Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen so zusammen, dass sie gemeinsam schaffen, was einer allein nicht schafft, ohne dass hierarchisch vorgegeben ist, was dabei rauskommen soll...


--


"3.Es heißt (S. 65), das "Besondere" soll sein, dass die "sonst übliche Trennung

von Erleben (Emotion) und Erkennen (Kognition) aufgehoben ist". Das fällt mir

schwer, nachzuvollziehen, denn ich begreife jede Person als Ganzheit, also so,

dass diese beiden Aspekte (und es könnte noch mehr Aspekte geben...) niemals

getrennt sind - allerdings unterschiedlich beachtet werden können, aber das

wäre in meinen Augen etwas ganz anderes. Letztlich begreife ich Ihre

Unterscheidung so, dass Sie meinen, dass sich Emotion und Kognition

tatsächlich trennen lassen."


--


-- Nein, dass meine ich nicht. Aber hier stellt sich die Frage, was in die Kommunikation kommt. Emotionen, die nicht in die Kommunikation kommen, haben keine unmittelbare soziale Wirkung. Das gilt aber auch für Kognitionen. Nichts Psychischen ist sozial wirksam, wenn es nicht kommuniziert wird. Als Randbedingung grenzt es zwar den Raum des sozial Möglichen ein, definiert aber nicht, was geschieht. Die Psyche eines Anderen ist nicht durchschaubar von außen (und von innen ja auch nur begrenzt), und soziale Spielregeln sind prinzipiell nicht determinsitisch auf psychische Prozesse zurück zu führen.


Im Setting der Trainingsgruppe wird - mangels eines vorgegebenen Sachthemas - die Beziehungsebene und das Erleben der Teilnehmer fast zwangsläufig zum Thema. Die Interaktion hier und jetzt ist das Thema, um das es geht. Form und Inhalt der Kommunikation kommen zur Deckung. Wenn es "normalerweise" in Organisationen oder anderen sozialen Systemen nicht zum Thema wird, heißt dies nicht, dass es nicht existiert.


--


"Nach meinem Verständnis bin in jedem Prozess zu jeder Zeit als fühlender und

erkennender (und vielleicht auch noch mehr)Mensch enthalten. Was eine solche

Aufsplittung unmöglich machen würde - natürlich nicht die jeweilige

Aufmerksamkeitsfokussierung, aber um die geht es Ihnen nicht, denn sonst

hätten Sie das so gesagt.


Nach meiner Interpretation würde Ihre Aussage darauf hinauslaufen, dass es

möglich sei, Emotion und Kognition tatsächlich zu trennen."


--


-- Das wäre wirklich Quatsch.


--


"4.Wenn, wie Sie schreiben, dass die "Perspektive erweitert" werden soll, der

"Zusammenhang zwischen den aktuellen Problemstellungen in Wirtschaft und

Gesellschaft und den Lernzielen der systemischen Gruppendynamik" verdeutlicht

werden soll (S. 65), dann werden nach meinem Verständnis hier zwei

unterschiedliche Kontexte benannt, ohne dass deren Unterschiede und/oder

Gemeinsamkeiten benannt würden. Wenn z.B. Wirtschaft darauf angelegt ist,

Wachstum und Profit zu verbessern, dann wäre doch zumindest das zu

thematisieren, denn dann ginge es immer auch darum, diese Ziele mit zu

beachten - und die dürften sich in Hinblick auf Wirtschaft und Sozialwesen

Mensch nicht immer als identisch erweisen.


Und wenn Sie dann die Sachebene der Kommunikation von der Beziehungsebene

unterscheiden, so fehlt mir der Kontext - denn es geht hier um Führungskräfte,

Entscheidungsträger, die als Mitglieder ihrer Institution/Organisation auch

(oder vor allem?)ökonomische Interessen zu vertreten haben, denn anderenfalls

würden sie dem Ziel der Institution/Organisation ("Überleben", d.h. kein

Konkurs) kaum gerecht werden. Anders gesagt, eine Ausblendung der sozialen und

politischen Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit scheint mir

irgendwie wenig vermeidbar, wird, so wie ich es verstehe, in diesem Beitrag

nicht angesprochen."


--


-- Sicher hätte der Kontext, vor allem die Logik von Wirtschaft und Organisationen im allgemeinen im Artikel thematisiert werden können. Aber bei beschränktem Raum, muss man auswählen. Ich verweise Sie in dem Zusammenhang auf meine beiden Büchlein: "Einführung in die systemische Organisationstheorie" und "Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie", wo ich mich auch mit diesen Fragen zu beschäftigen versucht habe.


Aber die Auffassung, dass Entscheider die ökonomischen Interessen der Institution oder Organisation zu vertreten haben, teile ich nicht. Zumindest zeigt sich in der Alltagspraxis, dass dies nicht stillschweigend vorausgesetzt werden kann. Für jeden Mitarbeiter ist die Organisation in der Regel erst einmal Mittel zu individuellen Zwecken und Zielen. Es reicht, nix zu tun, was das überleben der Organisation gefährdet - aber selbst dann bekommt man manchmal ja als Topmanager noch horrende Abfindungen... (siehe Schweizer Volksabstimmung).


--


"5. Dann kommt die T-Gruppe (S. 66) als "Renaissance dieses Lernsettings als

'systemische Gruppendynamik'" - ja, eine wunderbare Setzung, die in meinen

Augen in dieser Präsentation keinerlei theoretischen Hintergrund hat. Da

könnte ich auch die analytische Selbsterfahrung in einem Gruppenkontext als

systemische Selbsterfahrung oder als systemische Gruppendynamik propagieren.

Das vermag ich so nicht nachzuvollziehen."


--


-- Siehe Antwort auf Frage 1. Eine analytische Gruppe würde den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Individuen und deren Psychodynamik richten. Das ist bei der systemischen Gruppendynamik nicht der Fall.


--


"6.Sie unterscheiden dann Gruppe von Organisation, wobei eben der Organisation

"Strukturen" zugeschrieben werden - als ob die Gruppe nicht auch welche hätte

(das hängt nach meinem Verständnis von der Unterscheidung der BeobachterIn

ab)... Und es ist die Rede von "Rationalität der Organisation", also ein

Anthropozentrismus, denn ein "Ding" - eine Beschreibung einer (leblosen) Sache

kann nach meinem Verständnis kaum rational sein. Wie heißt es bei Systemikern:

you cannot kiss a system. Und was dann folgt, könnte ich genauso gut auf

Gruppen übertragen. Und Ihre "sicher verkürzende Formel ... In der

Organisation passt sich im Zweifel der Einzelne den vorgegebenen sozialen

Strukturen an", finde ich tatsächlich zu verkürzt: Es geht hier nach meinem

Verständnis um Betriebe, um (Profit-) Wirtschaft. Da passt sich der Einzelne

kaum an, er muss es, um das materielle Überleben zu sichern. Aber das fiele

aus einer objektivierenden Sprache einfach heraus. Ich könnte pointiert sagen:

hier ist die Rede vom sozialen Wesen (Mensch) in asozialen Organisationen

(etwa Opel und Entlassungen)."


--


-- Die Unterscheidung sozial vs. asozial ist eine andere, als wir sie verwenden. Für uns sind soziale Systeme als Kommunikationssysteme definiert (hier folgen wir der Definition Luhmanns). Das heißt es geht nicht um die Bewertung als sozial oder asozial, sondern Organisationen und Gruppen sind per definitionem als soziale Systeme zu betrachten.


Eine Gruppe, die bei Null startet, hat noch keine Strukturen. Erst wenn sie eine Geschichte (die auch sehr kurz sein kann) durchlaufen hat, entwickelt sie Strukturen. Aber die - und hier liegt m.E. der wesentliche Unterschied - sind von den beteiligten Personen abhängig. Hinzu kommt die oben erwähnte Schwierigkeiten in Gruppen, dauerhaft Asymmetrien, die mit der Bewertung von Personen verbunden ist, auszuhalten. Es bedarf immer wieder der Resymmetrisierung, wenn die Gruppe nicht auseinander knallen soll (Sie kennen sicher auch etliche Teams, die aus derartigen Gründen unfriedlich auseinandergehen). Letztlich ist die Symmetrie der Beziehung, d.h. die immer wieder nötige Änderung der Struktur, Voraussetzung für das längerfristige Funktionieren der Gruppe.


Gruppe ist also nicht einfach - wie etwa eine Abteilung in einer Organisation - durch die Zahl der Teilnehmer definiert, sondern durch die Bewältigung der o.g. Probleme.


Organisationen sind hingegen zwangsläufig immer auf Hierarchie zur Koordination der Vielzahl (weit über jede mögliche Gruppengröße hinausgehend) autonomer Akteure angewiesen. Und ihre Strukturen sind viel weniger flexibel als die von Gruppen, da die Organisation langfristig nur überlebt, wenn jedes Mitglied in seiner Funktion ersetzbar und austauschbar ist/bleibt. Nur deswegen können Organisation weit älter werden als ihre Mitarbeiter. Als Rollenträger hat man zwar einen bestimmten Spielraum zur Ausfüllung seiner Rolle/Stelle, aber die bleibt bestehen, auch wenn man in Pension geht (oder auch nicht, aber dann gibt es andere, um bestimmte Aufgaben sicher zu stellen).


Organisationen sind in diesem Verständnis keine Dinge, sie sind auch nicht irgendwie anthropomorph konzeptualisiert, sondern als autopoietische Kommunikationssysteme. Sie "überleben", so lange die Kommunikation, die sie als Einheit definiert, fortgesetzt wird. Die Strukturen von Organisationen sind daher auf die Sicherung von Funktionen gerichtet.


Ich finde es wichtig, dass Führungskräfte oder Berater sich der Unterschiede zwischen Gruppen, Familien (hier sind - als Gegenbild - die Mitglieder nicht austauschbar, aber ihre Funktionen) und Organisationen bewusst sind. Das verwecheln Leute wie wir, die als Therapeuten sozialisiert wurden, nur zu gerne...


--


"7.Und dann benennen Sie das "Paradoxie-Bewusstsein" - Inhalts- und

Beziehungsaspekte muss - wer? Klar! - der Leiter (also der Chef) so

organisieren, dass eine symmetrische Kommunikation möglich ist. Da frage ich

mich, wie das aussehen soll in einer hierarchischen Betriebsorganisation, wo

der Chef Chef bleibt, egal welches konkrete Verhalten er zeigt. Da scheint mir

die konstruierte Wirklichkeit einer hierarchischen Organisation (Unternehmen)

zu sehr ausgeblendet - das, was Sie vorher als Struktur der Organisation

beschrieben haben, gegen die dann auch ein Chef "nicht wirklich" verstoßen

kann."


--


-- Nein, da teile ich Ihre Meinung nicht. Ein Chef kann durchaus eine symmetrische Kommunikation auf der Inhaltsebene wahrscheinlich machen (nicht garantieren, da haben sie recht), wo auf Augenhöhe über Sachfragen diskutiert wird. Ja, er muss seine hierarchischen Position sogar benutzen, damit es überhaupt passiert, da Hierarchie (= Organisation) diese Art der Kommunikation unwahrscheinlich macht. Aber es geht. Ich habe das sowohl als Mitarbeiter erlebt (z.B. in der Uni Heidelberg) und ich hoffe, dass meine Mitarbeiter das auch erleben. Ich habe oft noch keine Meinung zu einem Thema oder ich organisiere mir Widerspruch, wenn ich denke, dass ich mich im eigenen Saft drehe oder Sorge habe zu verblöden...


Soweit meine Antworten. Ich hoffe, ich konnte helfen (tue ich ja immer gern), obwohl Sie ja eher bitten das nicht zu tun...


Mit freundlichem Gruß (was nicht heißen soll: unfriedlich),


FBSimon