Systemische Vergreisung (besser: systematische Vergreisung)

Immer wieder im Herbst, manchmal auch im Frühjahr, bekomme ich Programme von Ausbildungsinstituten für systemische Therapie zugeschickt. Bei einigen bin ich im Beirat, habe sie mit gegründet, oder ihre Gründer sind alte Bekannte und Freunde von mir...


Jetzt aber hat mich eine Broschüre besonders beeindruckt (um es neutral zu formulieren). Ich nenne nicht den Namen des Instituts, weil ich zum einen niemanden kränken will (schon gar nicht Menschen, mit denen ich befreundet bin und denen ich mich verbunden fühle), zum anderen, weil ich meine, dass das, was ich da gesehen habe, für viele, wenn nicht die meisten systemischen Ausbildungsinstitute gilt (vielleicht ja für psychotherapeutische Ausbildungsinstitute insgesamt, wenn ich es mir recht überlege, aber die nicht-systemischen können mir ja egal sein).


Ich habe also diese Broschüre mit dem Programm für das nächste Jahr aufgeschlagen:


1. Schock: Auf einem Foto sehe ich das Team der Dozentinnen und Dozenten. Alles freundlich lächelnde und sympathische Menschen, und alle etwa 60 Jahre alt oder älter. Bieder, brav, zuverlässig, unsexy...


2. Schock: Mit zwei Ausnahmen waren alle Personen auf dem Foto mal bei mir in Ausbildung (eine der Ausnahmen war die Sekretärin). Folge: Ich bin ein noch viel älterer Sack...


Gibt es keine jungen Leute in der systemischen Szene mehr?


Eine These, die ich schnell wieder verworfen habe, als ich nach einer Erklärung suchte. Schließlich leben ja all diese Institute, d.h. sie müssen Menschen ausbilden, die wahrscheinlich ja jünger sind als sie - Kurse mit 70jährigen Berufsanfängern dürften nicht wirklich ökonomisch tragfähig sein.


Zweite These: Es können nur Leute ausbilden, die lange im Beruf stehen und sehr erfahren sind. Aber das sind Kollegen zwischen 35 und 45 Jahren ja in der Regel auch. Ich selbst habe mit etwa 35 Jahren angefangen, Kurse und Seminare für - teilweise viel ältere - Kollegen zu geben. Und die Menschen auf den Fotos bilden auch schon schätzungsweise sein 25 Jahren aus, d.h. waren damals 25 Jahre jünger...


Die mir am plausibelsten scheinende Erklärung ist, dass diese Institute sich in ihren Nischen auf dem Markt gut etabliert haben, so dass jeder der Gründer-Dozenten seine Seminare gut gefüllt hat und sein Auskommen findet. Wenn Jüngere nun Kurse oder Seminare geben wollten, so würden sie um das beschränkte Kontingent der potentiellen Ausbildungskandidaten konkurrieren müssen, d.h. die Alten müssten sich einschränken, um den Jüngeren Platz zu machen. Aber das tun sie nicht... (warum sollten sie auch - individuell ist das ja gut zu verstehen, schließlich haben sie diese Institute aufgebaut).


Für die Szene scheint mir diese - nicht aus der Sache, d.h. den theoretischen und praktischen Grundlagen der Ausbildung, erklärbare - Vergreisung der Repräsentanten der systemischen Therapie problematisch.


Also, liebe Kinder unter 45, startet die Revolution, verjagt die verdienten Alten...


Oder vielleicht doch lieber ein Appell an die Alten: Vergesst nicht für den Nachwuchs zu sorgen, baut junge (oder wenigstens jüngere) Kollegen auf, die Euch Konkurrenz machen, schon damit Ihr nicht einschlaft und vorzeitig verkalkt.