Theoriearchitektur

Die Qualität von Theorien kann man gemäß vieler unterschiedlicher Kriterien bewerten: nach ihrem Erklärungswert, ihrer Passung zu den beobachtbaren Phänomenen oder ideologischen Prinzipien, ihrer Konsistenz, ihrer Nützlichkeit für die Praxis … (um nur ein paar Beispiele zu nennen). Eins ist in jedem Fall jedoch sicher: Theorien sind Konstrukte, und man könnte zur Erklärung irgendwelcher Phänomene immer auch eine andere Theorie konstruieren (was dann zu unterschiedlichen Handlungskonsequenzen führen würde). Schon bei der Selektion der zu beobachtenden Phänomene könnte man eine andere Wahl treffen. Ein Qualitätskriterium für wissenschaftlich (!) ernst zu nehmende Theorien ist aber verbindlich: Sie müssen logisch konsistent sein.
Als Hochschullehrer habe ich meinen Studenten immer die Wahl gelassen, worüber sie schreiben und welche Theorie sie verwenden wollen. Was sie aber - davon hing die Bewertung ab - tun mussten, war: konsistent entsprechend der jeweils theoriespezifischen Prämissen, die sie gewählt hatten, zu argumentieren. Eigentlich sollte man das von Professoren auch verlangen können. Das ist aber - sicher nicht nur, aber leider auch - bei manchen Kollegen nicht der Fall, die sich angeblich an der (bzw. einer, denn es gibt ja nicht nur eine) Systemtheorie orientieren.
Ich weiss nicht, ob die Metapher von Luhmann stammt, aber er verwendet gelegentlich das Bild der Theoriearchitektur. Es illustriert m.E. gut, worum es geht: Ein Architekt, der ein Haus konstruiert, muss bestimmte Regeln befolgen: Der Plan und in der Folge das Gebäude muss statischen Anforderungen gerecht werden, es sollte ästhetisch einigermaßen erträglich sein, es muss benutzbar sein und der Bauordnung gerecht werden usw., um überhaupt genehmigt zu werden. Analoges gilt für die Architektur von Theorien. Es gibt zwar kein Bauamt, das die Statik prüft und nachrechnet, sondern nur Kollegen, die z.B. mangelnde Konsistenz oder praktische Nutzlosigkeit monieren, aber das Prinzip ist ähnlich. Auf der einen Seite schreitet das Bauamt ein, auf der anderen die kollegiale „Diskurspolizei“.
Im Bereich des sogenannten „Systemischen“ finden sich nun leider ziemlich viele Leute, die nicht den Prinzipien guter Architektur folgen, sondern eher wie Heimwerker vorgehen. Sie haben - um im Bild zu bleiben - eine von einem richtigen Architekten entworfene, würdige Gründerzeit-Villa geerbt und „verbessern“ (oder „entwickeln“) sie nun, indem sie die alten Sprossenfenster durch die praktischen, viel pflegeleichteren silbernen Alu-Fenster aus dem Baumarkt ersetzen, sie bauen einen Wintergarten - meist aus dunkelbraun eloxiertem Aluminium - an, die Küche wird durch einen Bretterverschlag ergänzt, um da Bierkästen abstellen zu können, und zu guterletzt werden, um die eigene Progressivität zu beweisen, noch ein paar Solarzellen auf das klassische Walmdach gepackt. Über die Farbe, in der sie das Ganze streichen, habe ich aus Gründen des Takts nicht mal was gesagt.
Dass diese Leute sich in ihren Häusern wohl fühlen, ist offensichtlich, und es sei ihnen gegönnt, denn das ist ja ihr Haus und daher ihr gutes Recht. Jeder soll sich nach seiner eigenen Fasson glücklich behausen. Nur sollten sie nicht hoffen, dass andere Leute ihren gestalterischen Inspirationen folgen…
Bezogen auf die Weiterentwicklung der Systemtheorie(en) heißt das, dass es nicht so ohne weiteres zu konsistenten - und daher anschlussfähigen - Resultaten führt, wenn man z.B. Luhmann mit Derrida oder sonst wem aus dem intellektuellen Multiversum mischt und das Ganze dann noch mit Küchenpsychologie anreichert. Es spricht m.E. zwar nichts dagegen, Anleihen bei anderen Theorien/Theoretikern zu nehmen, aber Voraussetzung ist stets, dass man innerhalb des Rahmens bestimmter logischer Prämissen bleibt, die für die jeweilige Theorie Identität stiftend sind. (Alternative ist, seinen eigenen Theorierahmen zu zimmern, innerhalb dessen man dann aber ebenfalls einer konsistenten Logik folgen muss). Integration heißt auch in Bezug auf die Konstruktion von Theorien, dass man die Begrenzung seiner Freiheit akzeptieren muss.
Wer das nicht tut, muss - falls er bzw. seine Elaborate überhaupt zur Kenntnis genommen werden - damit rechnen, dass er (mehr oder weniger gnadenlos) kritisiert wird. Er gilt schlicht - wie es Armin Nassehi neulich in einem anderen Zusammenhang nannte - als „nicht satisfaktionsfähig“. Und falls er dann geprügelt wird (natürlich nur im übertragenen Sinne) gilt: Wer Hitze nicht vertragen kann, sollte die Küche verlassen.
Dass man als Praktiker (anderes Spielfeld = anderer Kontext) eigentlich gar keine explizite oder konsistente Theorie braucht, sei hier nur angemerkt. Es reicht, wenn man weiß, was man wann wie und wo zu tun hat - wie ein Taxifahrer, der an jeder Kreuzung weiß, ob er geradeaus fahren oder abbiegen muss, um zu seinem Ziel zu kommen. Stadtplan muss er keinen zeichnen können…