Thomas Szasz gestorben

Einer der Leser dieses Blogs hat mir darauf hingewiesen, dass Thomas Szasz im Alter von 92 Jahren (nach einem Sturz, wie die New York Times berichtet) gestorben ist.


Da ich ihn für einen der intelligentesten, originellsten und - was durchaus ambivalent zu betrachten ist - radikalsten Denker im Bereich der Psychiatrie halte, Grund zur Trauer, aber auch Grund, um noch einmal auf sein Werk zu schauen. Da ich hier schon mehrfach über Szasz, den ich persönlich - wenn auch nicht sehr gut - kannte, geschrieben habe, drucke ich nachfolgend noch einmal meinen Beitrag vom 30. Dezember 2010 ab, in dem ich mich mit einem seiner, wie ich finde, schwächeren Bücher beschäftige. Die Lektüre war aber immerhin Anlass, eine Neuübersetzung seines bahnbrechenden und immer noch für die Psychiatrie bzw. deren Verständnis unverzichtbaren Buches "Geisteskrankheit - ein moderner Mythos" in Auftrag zu geben.


Hier also noch einmal der Text von 2010:


"Er war einer meiner Heroes, als ich meine psychiatrisch-psychotherapeutische Karriere begann: Thomas Szasz. Sein Buch "Geisteskrankheit - Ein moderner Mythos", das 1961 erschien, war in seiner radikalen Kritik an der Medizinalisierung abweichenden Verhaltens bahnbrechend.


Jetzt habe ich sein neuestes Buch "Psychiatry - The Science Of Lies" (2008) mit der Frage, ob es im Auer-Verlag publiziert werden kann/soll, gelesen. Und es hat mich deprimiert. Nicht dass die Kritik, die Szasz äußert, weniger radikal oder berechtigt wäre. Ganz im Gegenteil: Die Medizinalisierung (und das heißt für mich: Verblödung) der Psychiatrie hat zugenommen. Das war vor allem das Deprimierende.


Als das Buch auf Deutsch erschien - in der Zeit um 1968ff. - war man ja gesellschafts- und kapitalismuskritisch und hat daher auf Interaktion und Kommunikation geschaut. Szasz bekämpfte damals in erster Linie die Psychoanalyse, die sich dem medizinischen Krankheitsbegriff anpassen wollte. Das tut er (leider) immer noch. "Leider", nicht weil die Psychoanalyse sich in der Hinsicht geändert hätte, aber er scheint mir den falschen Feind zu bekämpfen.


In den 60er und 70er Jahren war die Psychoanalyse mit ihren Konstruktionen psychischer Krankheiten und ihrem Versuch, von den Ärzten als Wissenschaft akzeptiert zu werden, für Szasz zu recht ein Hauptgegner, wie ich finde. Aber jetzt kräht ja eh kaum ein Hahn mehr danach, was Psychoanalytiker meinen (in den USA schon gar nicht), so dass die von Szasz immer noch weiter geführte Polemik gegen die Psychoanalyse mir als ein Kampf erscheint, der schon längst entschieden ist.


Das heißt m.E. nicht, dass nicht die Medizinalisierung und Biologisierung der Psychiatrie kritisiert werden sollte, aber heute ist es die Hirnforschung, die zu schwachsinnigen Erklärungen abweichenden Verhaltens führt. Und sie ist für die Entwicklung der Psychiatrie weit fataler als es die Psychoanalyse je werden konnte, denn Medikamente zu geben ist für die Anwender eines biologischen Paradigmas weit einfacher, als Menschen auf die Couch zu legen (vor allem, wenn diese Medikation für denjenigen, der sie vornimmt, gut honoriert wird).


Was in dem Ansatz von Szasz vor allem fehlt (und auch schon früher fehlte), ist ein Alternativ-Vorschlag, was mit Menschen zu tun ist, die sich nicht an die Erwartungen, Spielregeln etc. halten und anderen Angst machen und/oder sich und andere gefährden.


In den 70er Jahren gab es zwei Antworten auf diese Frage: Die eine war die Sozialpsychiatrie, die sich für das Krankheitsmodell entschied und so für die Chronifizierung der Patienten auf komfortablerem Niveau sorgte. Biologie + Fürsorge, so könnte man deren Formel zusammenfassen. Eine ganz andere Antwort hat die systemische Therapie geliefert, die das Krankheitsbild als Konstrukt verstand und sich damit beschäftigte, welche sozialen (=Kommunikations-) Systeme die "Herstellung", "Chronifizierung" und "Beseitigung" von Verhaltensweisen, die üblicherweise als Ausdruck psychischer Krankheiten definiert werden, wahrscheinlich machen. Die Dekonstruktion der "Krankheit" wurde zum therapeutischen Mittel, und die praxisorientierten Bücher, die es inzwischen zuhauf gibt, zeigen, wie man das machen kann.


Szasz ist ja ein sympathischer Mensch und sein auch heute noch unvermindertes Engagement ist anrührend (er ist jetzt 90 Jahre alt). Aber was m.E. jetzt gebraucht wird, sind kompetente Hirnforscher, die der Öffentlichkeit deutlich machen, dass die Pathologie des Gehirns nicht erklären kann, warum ein Mensch ein Wahnsystem entwickelt, aufhört zu essen oder bei Daimler arbeitet etc. ...


Auch wenn ich nicht dafür plädieren werde, das neue Buch von Szasz auf Deutsch herauszubringen, war es für mich doch Anlass, noch mal in das Buch von 1961 (s.oben) zu schauen: Es ist aktuell wie eh und je und sicher einer der wichtigsten Texte zur Theorie der Psychiatrie, der je publiziert wurde - auch ein Grundlagenwerk zur systemischen Sicht abweichenden Verhaltens (oder dessen, was man heute unhinterfragt medizinalisiert "psychische Krankheiten" nennt)."


Zum Tod von Szasz siehe auch:


http://www.nytimes.com/2012/09/12/health/dr-thomas-szasz-psychiatrist-who-led-movement-against-his-field-dies-at-92.html