Über die Schwierigkeiten sich hierzulande „Guten Tag“ zu sagen

Gestern waren meine persönlichen Probleme an der Reihe, heute komme ich zu den gemeinsamen, also zu den Problemen die ihr vermutlich auch habt. Wir starten gewissermaßen in eine problemgeschwängerte Woche. Nachdem ich gestern Nachmittag drei, hintereinander in Reihe auftretende Peinlichkeiten über mich ergehen lassen musste und ja nicht der Einzige auf dieser Welt sein kann, dem so etwas widerfährt, lasse ich es jetzt einfach raus: das Problem mit der Begrüßung.


„Darf ich vorstellen - ein alter Freund aus Berlin.“ Da es sich bei dem „alten Freund“ um mich handelt, setze ich - wie es sich gehört - ein Lächeln auf, nicke zustimmend mit dem Kopf, gehe einen Schritt nach vorne und strecke meinem Gastgeber die rechte Hand entgegen. Falsch! Erster Fehler. Mein Begrüßungspartner hat etwas anderes im Sinn und kommt mit geöffneten Armen auf mich zu. Wahrscheinlich will er mir zeigen, dass der Freund seines Freundes - also ich - auch sein Freund ist und das heißt allemal: Umarmung. Meinetwegen. Im Bruchteil einer Sekunde bringe ich beide Arme so in Stellung, als hätte ich nie etwas anderes vorgehabt. Herzlichkeit ist angesagt. Wer will schon steif und förmlich wirken! Um weitere Fehler zu vermeiden, beginne ich akribisch auf jede Geste meines Gegenübers zu achten. Wer weiß, was dem noch alles einfällt?! Ich verzögere meine eigenen Bewegungen und orientiere mich an seinen Vorgaben. Höchste Aufmerksamkeit ist gefordert.


Dass Begrüßungsrituale gesellschaftlichen Konventionen unterliegen, weiß man spätestens dann, wenn man sie nicht einhält. Aus der Rolle zu fallen, zieht Peinlichkeit nach sich. Ich versuche die männliche Variante der Umarmung: ein leichtes, mehrmaliges Auf-die-Schulter-Klopfen. Meine Hoffnung, dass es sich damit bewenden ließe, läuft ins Leere. Während ich bereits wieder auf dem Rückzug bin, macht mein Gastgeber mit seinem Oberkörper einen Ausfall nach vorne. Ich hätte es mir denken können! Zweiter Fehler! Wo die Flagge der Spontaneität gehisst wird, droht unweigerlich auch das, was ich zu vermeiden suchte: der Kuss. Zu den besonders Kussanfälligen hierzulande gehören vor allem jene, die das sechzigste Lebensjahr noch nicht überschritten haben - die Jugend eben.


Wer den Kuss in den deutschen Begrüßungsraum eingeführt hat, weiß ich nicht. Die Geschwindigkeit seiner Verbreitung lässt auf eine Ursehnsucht von uns Deutschen schließen. Wahrscheinlich haben wir seit dreißig Jahren mit scharrenden Füßen darauf gewartet, ihn endlich auch bei uns hemmungslos zur Anwendung bringen zu können. Schließlich haben auch wir uns alle lieb - genauso wie die Franzosen, die Italiener oder Spanier und was sich sonst noch alles an begrüßungsküssenden Nationen in Europa herumtreibt. All das wäre halb so schlimm, hätte man bei der Einführung des deutschen Begrüßungskusses nicht den Beipackzettel vergessen. So aber scheint bis heute keinem richtig klar zu sein, wie man ihn denn korrekt hinter sich bringt. Was fehlt, ist eine Gebrauchsanleitung zu seiner fachgerechten Anwendung.


Da wäre zunächst die häufigste (und angenehmste) Erscheinungsart zu nennen: der knapp an der Backe vorbei, in die Luft gehauchte Simulationskuss - begleitet von einem dezenten, durch die gespitzten Lippen gleitenden, kaum hörbaren Schmatzen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Kusspalette steht jene Variante, bei der die davon Betroffenen anschließend verstohlen nach einem Taschentuch suchen. In dem dazwischen liegenden Feld liegen Varianten, die man erlebt haben muss, um zu wissen, über was man spricht: den „Bischofskuss“ beispielsweise. Hier hält der Begrüßungspartner demonstrativ seine Backe zum Empfang bereit. Dem bedauernswerten Gegenüber bleibt schlichtweg nichts anders übrig, als seinen Kuss demutsvoll dort abzulegen.


Mein Gastgeber hat sich für die vornehmere, aristokratische Art entschieden. Dafür haben wir beim Einfädeln Pech. Ein Kuss kommt selten allein. Die unvermeidliche Frage ist: auf welcher Seite beginnen? Mein Begrüßungspartner entscheidet sich spontan für links, ich, aus denselben Gründen, für das Gegenteil; die Folge davon: wir stoßen mit den Köpfen aneinander. Die einzige Regel, die ich bei dem ganzen Kuddelmuddel bisher entdecken konnte: wo immer man beginnt ist falsch.


Inzwischen haben wir uns abgestimmt: Küsschen links, Küsschen rechts, Küsschen li… Nächster Fehler! Mein Gegenüber weicht nach dem zweiten Kuss zurück, mein dritter Versuch bleibt im Ansatz zwischen den Lippen stecken. Angeblich kommt die Dreier-Variante aus Frankreich und die Zweier-Kombination aus der Schweiz. Tatsache ist, dass sich die deutsche Küsserei bis heute jeglicher Standardisierung verweigert. Möglicherweise macht hierzulande ja auch noch der sozialistische Bruderkuss seinen Einfluss geltend - wer weiß. Mein Versuch, regionale Besonderheiten aufzuspüren, ging ins Leere. Man küsst eben, wie einem danach ist.


Zu den deutschen Binnen-Schwierigkeiten addieren sich weitere, wenn man die Landesgrenzen überschreitet. Franzosen küssen immer, heißt es hierzulande. Also habe ich mir während meines winterlichen Frankreichurlaubs diesen französischen Brauch zu Eigen gemacht und bin meinen Gastgebern sicherheitshalber bei der Begrüßung gleich um den Hals gefallen. Die Beiden schienen befremdet, zumindest irritiert. Kurze Zeit später fragten sie mich, ob das in Deutschland so üblich sei.


Franzosen, wurde mir später in einem kleinen, südlich von Bordeaux gelegenen Dorf erklärt, küssen sich grundsätzlich nie bei der Begrüßung. Mir war es recht - so konnte ich endlich wieder zum klassischen Handschlag zurückkehren, den ich am selben Abend bei einer Geburtstagsfeier auch gleich auf breiter Basis zur Anwendung brachte. Wieder daneben. Französinnen küsst man immer, ihnen die Hand zu geben gilt als unhöflich: en gentil Mademoiselle de faire votre connaissance - Küsschen links, Küsschen rechts. Dieser einfach erscheinende Ablauf setzt bei einem deutschen Fünfzigerjahrgang allerdings einen zweitägigen Workshop in Verhaltenstherapie voraus. Schließlich wurde meine rechte Hand über Jahrzehnte hinweg zum Schütteln konditioniert. Bei unreflektierten Begrüßungseröffnungen schießt sie, gleich der Revolverhand des Cowboys, intuitiv nach vorne. Nachdem ich mehrmals versucht habe diesen Bewegungsdrang mit der linken Hand zu stoppen, bin ich später dann, bei Gefahr in Verzug, dazu übergegangen, sie in die Hosentasche zu sperren; auch kein Ausdruck besonderer Höflichkeit, ich weiß. Aber man muss ja nicht unbedingt nach Frankreich fahren.


Euch in der Heimat verbleibenden, aufs tiefste verunsicherten Land- und Stadtdeutschen sei folgendes Begrüßungs-Überlebens-Verhalten angeraten:


1. Lasst euch bei Beginn des Zeremoniells zu keiner Bewegung hinreißen die eventuelle Eindeutigkeit signalisieren könnte. Verhaltet euch so, dass euer Tun jederzeit auch anders interpretiert werden kann. Das reduziert zwar nicht die Menge möglicher Fehler, macht sie aber nicht so leicht erkennbar.

2. Beobachtet das Verhalten eures Gegenübers akribisch, reagiert zeitversetzt und folgt umstandslos allen von seiner Seite aus gemachten Vorgaben. Auf diese Weise kollidiert ihr nicht mit anders gearteten Begrüßungsvorstellungen, sondern fügt euch harmonisch in den Ablauf des Geschehens ein.


Schwieriger wird es, wenn sich euer Gegenüber der gleichen Taktik bedient. Jetzt hilft nur noch freie Improvisation. Was auf den ersten Blick als Vorteil erscheint - es seid ihr, denen die Wahl der Waffen zufällt -, erweist sich bei genauerer Betrachtung als eine äußerst perfide Falle. Hier angelangt, kann man euch nur mehr die Daumen drücken. Denn, was der eine als herzlich und warm empfinden mag, erscheint dem anderen distanzlos und aufdringlich und was sich für diesen korrekt und gesittet zeigt, stellt sich für jenen als steif und formal heraus. Versucht am besten, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Sollte er, entgegen aller Vorsichtsmaßnahmen, dann doch eintreten, der Begrüßungs-Gau, verzweifelt nicht - es bleibt immer noch die Flucht.