Unsicherheitsabsorption

Ein in der Organisationsforschung nützliches Konzept lässt sich m.E. auch auf die aktuelle politische Lage anwenden: das der Entscheidungsprämissen. Welche Prämissen legen die Menschen ihren Entscheidungen (z.B. ihren Wahlentscheidungen) zugrunde? Diese Prämissen dienen dazu, die Unsicherheit, die eigentlich immer und stets herrschen müsste, da die Zukunft nicht vorhersehbar ist, zu "absorbieren", d.h. sie ermöglichen jedem, so zu tun, als wüsste er, wie die Zukunft aussieht, und daher kann er sich auf sie einstellen (denkt er, und deswegen ist seine Angst begrenzt, obwohl das eigentlich vollkommen irrational ist, denn es könnte ja ein Koment die Erde treffen).


Es gibt natürlich eine Unzahl solcher Prämissen, aber in Organisationen lassen sich vier Typen identifizieren, die dort besonders wirksam sind. Schauen wir, ob die auch in der Politik brauchbar sind.



  1. Programme (das sind relativ eng gestrickte Handlungsanweisungen, die entweder als Zweckprogramme nach dem Muster "um... zu..." gestaltet sind oder als Konditionalprogramme nach dem Muster "wenn..., dann"; Rezepte, die nachgekocht werden müssen).

  2. Strukturen, meist der hierarischen Art, die festlegen, wer mit wem zu kommunizieren hat (d.h. es muss nicht jeder über alles mitreden, und er weiss, wo er sich einmischen soll, muss, darf...).

  3. Personen (damit ist nicht die Psyche eines Menschen gemeint, sondern das Bild, das andere Menschen sich von ihm machen).

  4. Kultur (alles, was das Zusammenleben im Alltag regelt, von der Kleiderordnung bis zum Sprachgebrauch oder Slang).


Wenn wir diese Typen von Prämissen anschauen, dann kann man sagen, dass die Unzufriedenheit mit der Politik - nehmen wir die Flüchtlingsfrage - sich nicht hat durch Programme lösen lassen. Es kommen kaum mehr welche, die Asylverfahrensregeln sind soweit verändert, dass man deren ursprünlichen Sinn in Frage gestellt sehen kann usw. - alles hat nichts an der "Angst" der Wähler geändert. Programme sind es offenbar nicht, die irgendwas verändern. Deswegen tun sich die aktiven Politiker auch so schwer, etwas zu verändern, weil es ja die Programme sind, die sie verändern könnten. Hat alles keinen Effekt.


Wie sieht es mit den Strukturen aus? Der Ruf nach Volksabstimmungen, die Verunglimpfung von Experten usw. können als Ruf nach anderen Kommunikationswegen und anderen Formen der Entscheidungsfindung gelesen werden. Alle Erfahrung und der Brexit zeigen, dass dies keine langfristig tragbare Lösung ist, da ein gewisses Maß an Sachkenntnis für viele Fragen unverzichtbar ist, was in der repräsentativen Demokratie eher gewährleistet werden kann...


Bleiben die Personen. Wir werden aller Wahrscheinlichkeit nach den Ruf nach dem "starken Mann" in Zukunft hören. Wer Ambitionen hat, in solche eine Rolle zu gelangen, sollte jetzt seine Chance nutzen. Erdogan, Trump, Orban, das sind nur ein paar Beispiele. Auch die Liebe zu Putin, die sich merkwürdigerweise verbreitet, gehört wohl in diese Kiste. Frau Merkel ist alles andere als ein "starker Mann" - und in der CDU findet sich auch keiner, da sie die potentiell starken Männer aus dem Wege geräumt hat bzw. die sich selbst (z.B. Merz, Koch, Guttenberg).


Schließlich ist da noch die Kultur. Ihre Bedrohung wird - Stichwort: Pegida - in den Vordergrund gestellt, weil sie im Alltag Erwartungssicherheit bislang als selbstverständlich gewährt hat. Mit Niqab und Burka auf der Strasse verliert der lockengewickelte Damenkopf  seine Selbstverständlichkeit. Und deswegen wird wohl auch gegen Burkini und etc. gekämpft.


Ich persönlich denke, dass die Angst, die offenbar (siehen die Allensbach-Studie im Anhang) in Deutschland herrscht, durch klare Positionen von Politikern bekämpft werden sollte, die deutlich machen, dass diese Ängste unbegründet sind: Sicherheit ist unsere erste Priorität.


Dass solche Stimmungen wieder vergehen, konnte vor ca. 10 Jahren in Deutschland beobachtet werden. Damals (2005) habe ich mit dem Management Zentrum Witten vor der Volksbühne in Berlin das große Depressionsbarometer installiert. Es zeigte täglich die Stimmungslage in Deutschland an. Sie war mies. Heute erinnert sich kaum mehr einer an diese Zeit...


Quelle: Allensbach-Studie: Deutschland hat Angst - SPIEGEL ONLINE