Verstehen/Verstandenwerden

"Ein Mann steht auf dem Geländer einer Brücke, offensichtlich im Begriff sich in suizidaler Absicht in die tief unten sichtbaren Fluten zu stürzen. Ein Passant spricht ihn an. Er steigt vom Geländer. Die beiden reden intensiv miteinander, dann steigen beide auf das Geländer und springen..." (Beschreibung einer Karikatur von - wenn ich mich recht erinnere - papan)


Verstehen (im umgangssprachlichen Gebrauch) wird in der Regel positiv bewertet. Vor allem in der Helferszene - aber nicht nur dort. Doch das scheint mir ein zu schlichtes Verständnis des Verstehens, denn es sollte m.E. weit ambivalenter bewertet werden.


Bleiben wir bei der Definition, dass es dabei um die Fähigkeit geht, Wahrnehmungen, Gedanken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person nachzuvollziehen und nachzufühlen (oder so ähnlich).


Auf der einen Seite ist das natürlich schön, wenn dies zwischen Menschen gelingt und der eine sich bzw. sein Handeln am Erleben des anderen orientiert - am besten noch ohne Worte usw.


Auf der anderen Seite ist es aber auch problematisch, denn Verstandenwerden heißt ja immer auch, (in gewissem Maße) berechenbar zu werden.


Systemtheoretisch ist das alles relativ einfach. Nicht-triviale Systeme (wie eine fremde Psyche z.B.) sind nicht von außen durchschaubar und daher sind ihre Aktionen und Reaktionen nicht vorhersehbar, zumal sie lernfähig sind und sich geschichtsabhängig verändern. Wenn der Beobachter Zugang zur internen Dynamik und ihrer Regelhaftigkeit hat, dann ist diese Unberechenbarkeit flöten...


Daher mein wiederholtes Statement: Nicht-Verstandenwerden sichert die individuelle Autonomie, oder anders gesagt: Der Versuch, andere zu verstehen, ist immer eine Grenzverletzung (wenn auch oft genug eine erwünschte oder gar ersehnte). Die Gedanken sind frei - aber nur, solange sie keiner abhören kann (eine Angst vieler Psychotiker, zu denen sich aufgrund ihrer Sorge um die eigene Autonomie nur eine einigermaßen tragfähige Beziehung entwickeln läßt, wenn das Nicht-Verstehen in der Kommunikation ständig deutlich bleibt und als "Selbstverständlichkeit" mitläuft.)


Wer Menschen in den Wahnsinn treiben will (seine Kinder zum Beispiel) sollte sie mit seinem uneingeschränkten (!) Verstehen foltern.


Zur Illustration eine Fallgeschichte: Ich hatte eine Patientin (keine Psychotikerin) für 300 Stunden im klassischen Couch-Setting in Analyse. In der 299. Stunde offenbarte sie mir, dass sie eigentlich vorhatte, in der letzten Stunde irgendetwas vollkommen "Unmögliches" zu tun, mit dem ich nie hätte rechnen können. Warum? Weil es für sie nur schwer erträglich sei, dass ich sie so gut kenne, sie letztlich keine Geheimnisse vor mir hätte usw.

Ich haber ihr versichert, dass ich das gut verstehe... (was ihre ihre Reue, es nicht getan zu haben, verstärkt haben dürfte).