Auf der Brücke von Tod und Leben
Suizid in China ist im Unterschied zu westlichen Ländern oftmals unmittelbar ein gesellschaftliches Problem und steht weniger im direkten Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen. Man fragt einerseits nach den Ursachen. Andererseits danach, wer Verantwortung an dem Tod trägt. Man geht in China vielfach davon aus, dass eine Person vor allem deshalb ihr Leben freiwillig beendet hat, weil sie an einem konkreten Alltagsproblem verzweifelt war. Das impliziert, dass stets jemand mitschuldig ist an der Tat. Jemand in der Gesellschaft.

Umgangssprachlich meint man in China, dass Selbstmord oftmals eine Geringschätzung des Leibes bedeutet (qingshen). Dabei, und das darf man nicht vergessen, gibt es in China verschiedene Arten der Übersetzung von dem, was man Suizid nennen könnte. Daher wird Suizid gesellschaftlich und moralisch auch unterschiedlich bewertet. Untersuchungen zeigen, dass die häufigsten Ursachen von Suizid in China häusliche d.h. familiäre Probleme, dann die Überbelastung im Berufsleben sind. Beides gekoppelt spiegelt einen oder besser gesagt den zentralen Problemkomplex im heutigen China, in Zeiten von radikalem, gesellschaftlichem und ökomischen Wandel dar.

Wie geht nun die Gesellschaft mit dem Phänomen Suizid um? Wie reagiert man darauf? Wer hilft, wenn ja wie wird geholfen?

Einerseits droht denjenigen Strafe, die sich umbringen wollten oder gerettet worden sind. Andererseits gibt es wohl medizinische und / oder psychotherapeutische Hilfe. Wie aber dem Problem Herr werden, wenn es in China zur Zeit vielleicht so viele Behandler gibt wie in ganz Deutschland? Sieht man sich die Zahlen an, ein schier unmögliches Unterfangen.

Die Brücke über den Yangtse in Nanjing zieht fast magisch Menschen an, die sich umbringen wollen. Seit mehr als 13 Jahren versucht Chen Si, der in der Nähe der Brücke wohnt, die Verzweifelten zu retten. Niemand sonst auf der Brücke kümmert sich um diese Menschen. Am Wochenende fährt Chen Si mit seinem Motorroller regelmäßig über die Brücke und hält Ausschau nach denen, die sich eventuell umbringen wollen. Inzwischen hat er mehr als 250 Menschen gerettet.

Die chinesische Dokumentarfilmerin Lola Jia Liu hat Chen Si bei seiner Arbeit begleitet und portraitiert in ihrem Film vier der Geretteten.

Wer ist dieser Chen Si? Was treibt diesen immer wieder auf die Brücke? Was hat die Menschen, die er retten konnte, zu ihrem Selbstmord getrieben? Welche Hilfe kann er als Einzelner leisten?

Der Film begleitet den mitfühlenden Chen Si auf seinen Patrouillenfahrten, mit ihm begegnet man Opfern der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung Chinas. Auf der Brücke erleben die Zuschauer mit versteckter Kamera Menschen kennen, die verzweifelt aus dem leben scheiden wollen. Jia Liu begleitet einige Geretteten zu den Orten ihres Lebens und dokumentiert klar, deutlich und äußerst einfühlsam die Lebensschicksale der Menschen.

Es gibt einige erwähnenswerte Besonderheiten in dem Film, die ihn tatsächlich sehenswert machen:


  • Es kommen nur die Menschen selbst zu Wort. Kein Wort, keine Kritik, kein Kommentar eines Dritten aus dem Off.

  • Die Menschen beschreiben sich und ihre Lebenssituation so anschaulich und plastisch, dass es einem unter die Haut geht und man ein Verständnis und Gefühl für die einzelnen Schicksale bekommt. Der Film ist entgegen der Ankündigung keine übliche Heldengeschichte.

  • Schließlich ergeht sich der Film nicht in der sonst bei deutschen Dokus über China üblichen Gesellschaftskritik, vorgetragen mit dem pädagogischen Zeigefinger. Betont die Autorin und Regisseurin doch im Einzelnen, welche Bedeutung der Beziehung unter und zwischen den Menschen zukommt. Gleichzeitig zeigt sich in den vier Portraits nach, dass und wie Geld oder die Beziehung zum Geld an die Stelle von Beziehung getreten ist.


Der Film, der heute (6.3.2017 um 0:05 im ZDF) ausgestrahlt wird, ist vielleicht nicht nur für China-Interessierte gedacht sondern auch für diejenigen, die darum wissen, dass und wie Geld an die Stelle von Beziehung getreten ist oder treten kann. Und zwar überall auf der Welt.