Grexit – die Behandlung einer europäischen Depression

Der Countdown läuft. Kommt der Patient in die Klinik zur Notaufnahme oder überwindet er seine Depression allein? Durch Zufall erinnere ich mich an das FAZ-Interview mit der Psychoanalytikerin Julia Kristeva, die im Mai 2013 Griechenland und die EU auf die Couch legen wollte. Europa würde sich aber nicht zum Therapeuten begeben. Stattdessen handelt es hyperaktiv, sucht nach Ausreden, schiebt Dinge auf die lange Bank und begnügt sich mit Trugbildern. Auch wenn sich die gegenseitigen Enttäuschungen ständig häufen.


Ganz im Unterschied zu anderen politischen „Blöcken“ wie China, die USA hätte man keine starke Identität. Eine Identität die sich auch mit der eigenen Geschichte auseinandersetzt. Kristeva denkt dabei an die Inquisition, Kriege, Kolonialismus und Machismo. Aber man müsse, so die Analytikerin auch über seine Schatten sprechen. So wie es in der Analyse vielfach der Fall ist.


Wenn ein Patient, wie Europa es ist, sich auf die Couch legen würde, bestünde die Möglichkeit den eigenen narzisstischen Bruch zu heilen, die eigenen Schwächen zu erkennen, Haltung zu gewinnen und sich in der gemeinsamen Gesichtswahrung den Dingen zu stellen. So die Analytikerin.


Man feilscht über ökonomische Zwänge, einmal getroffene Vereinbarungen, einmal getroffene Richtlinien und hiermit verknüpfte "logische" Konsequenzen, statt auch über die Befindlichkeiten der Menschen  zu reden. Hierzu gehören natürlich der tiefe Ärger, der ohnmächtige Zorn, und die durch diplomatische Gepflogenheiten gebundene Wut. Gefühle, die da sind, Gefühle, die man den Menschen ansieht. Gefühle, die bei allen Unterschieden die Menschen in ganz Europe berühren.


Diese Gefühle vereinen die Menschen, die politisch auseinanderdriften (sollen).


Stattdessen hält man sich am Geländer von "was gestern galt, hat auch morgen zu gelten" fest. Oder aber ergeht sich in berauschenden Manövern des "Nicht-Kontakts". Beide können aber nicht voneinander lassen. Europa, und damit ist ganz Europa gemeint, befindet sich in einem Lernfeld mit sich selbst. Und hat es selbst noch nicht gemerkt. Geht es doch nicht um den Euro. Geht es doch inzwischen nicht mehr darum, ob Griechenland bleibt oder austritt. Nein, es geht vielmehr darum, ob Europa, und damit sind alle gemeint, sich am Tag nach dem Tag X noch im Spiegel in die Augen schauen können.


Um dieses zu erkennen, hätte man doch vielleicht die analytische Couch der Kollegin Kristeva aufsuchen sollen. Dort hätte man (neu) üben gelernt, sich der Geschwindigkeit und  einseitigen Ökonomisierung gegenüber zur Wehr zu setzen. An Stelle eines rigiden Integralismus hätte dann die europäische Tradition des Schutzes des Singulären treten können. Das ist die über Jahrtausende entwickelte Kunst, dem Einzelnen einen besonderen Wert beizumessen, den Einzelnen zu schützen. Hierzu bedarf es, so die Analytikerin, die Bereitschaft zu zweifeln, zu hinterfragen, das Recht zu haben abzuweichen, aber auch den geschützten Raum hierzu zu haben. Die Bereitschaft bei allen. Denn nicht Griechenland ist der Patient sondern Europa.