Ist "Öffentlichkeit" noch zeitgemäß?

In einem chinesischen Online-Nachrichten-Dienst wurde jüngst von einem Suizid-Selfie berichtet. Der entsprechende Post wurde mit der Botschaft an den Ex-Freund versehen: "After I'm dead, I will haunt you day and night, I will never be apart from you again."


Bild, Text und Post sind unmissverständlich öffentlich. Ewig öffentlich. Das Internet vergisst nämlich nicht.


Heutzutage wird ja über alles berichtet. Ob offiziell durch die Medien oder persönlich durch die Menschen selbst. Der Deutsche Presserat hat vor vielen Jahren eine entsprechende ethische Empfehlung herausgegeben. Hintergrund ist die Angst vor dem Nachahmermeffekt. Diese Angst hat ihre historischen Wurzeln offensichtlich in Goethes Publikation "Die Leiden des jungen Werther". Damals wurde ein solcher Nachahmeffekt beobachtet. Wohl später in der Wissenschaft kontrovers diskutiert.


Natürlich ist dies für die Medien nicht bindend. Und doch hält man sich oftmals daran.


Vergangene Woche sprach ich mit einem Medienmacher (Öffentliche Sender) hierüber. Er bezog sich auf das hiermit verbundene Tabu, um seine diesbezügliche Zurückhaltung zu erklären. Es sei eben so, auch wenn er aus jeweils aktuellem Anlass natürlich über Suizid berichten würde. Wenn es dieses Tabu eben nicht gäbe.


Es geht mir an dieser Stelle nicht um die Diskussion, ob es einen Nachahmeffekt gibt oder nicht. Ich halte eine solche Diskussion für überflüssig, zumal sich Suizid heutzutage, vor allem im Bereich Social Media bereits öffentlich abspielt bzw. dort inszeniert wird. Da diese Inszenierung sich in der virtuellen Öffentlichkeit abspielt, ist sie öffentlich, "ewig" d.h. dauerhaft öffentlich.


Ich verstehe das gerade gepostete Suizid-Selfie als stillen, stummen Aufschrei einer jungen Frau, eines jungen Paares. Als einen stummen Schrei in der virtuellen Öffentlichkeit. Dieser Schrei wurde gehört. Man schreibt über diesen virtuellen Schrei. Man kann an diesem Schrei nicht mehr vorbei. Es geht offensichtlich nicht mehr darum, ob man in der Öffentlichkeit über Suizid berichten soll oder nicht. Nicht mehr darum, ob es zur Nachahmung kommt. Sondern wie man darauf reagiert. Wie man darüber berichtet.


Die Berichterstattung würde dann weniger den Suizid als Ereignis beleuchten, sondern den virtuellen stummen Schrei als ein Ausdrucksmittel, das ernst zu nehmen ist. Als ein Zeichen der Zeit. Als eine Not von jungen Menschen. Eine Not, die die Empfehlung des Deutschen Presserats als Abwehr outet, sich eben nicht mit dieser Not und dem Geschehen in der virtuellen Öffentlichkeit befassen zu müssen.


Die Frage "Öffentlichkeit oder nicht" ist also überflüssig und Oldschool. Insoweit ist "Öffentlichkeit" nicht mehr zeitgemäß. Gibt es doch viele Öffentlichkeiten, Öffentlichkeiten, denen man nicht entgehen kann. Öffentlichkeiten, die einem selbst den Spiegel der Vermeidung und Selbstgenügsamkeit vorhalten