Corona-Maßnahmen – oder: Das Scheitern der Kontroll-Hybris

Als „Hybris“ können wir Eigenschaften wie „Vermessenheit“ oder „Überheblichkeit“ verstehen. Bezüglich der Frage, ob und wie bio-psycho-soziale Dynamiken kontrolliert, zielgerichtet beeinflusst und gesteuert werden können, gibt das systemisch-konstruktivistische Paradigma in den Human- und Sozialwissenschaften spätestens seit der so genannten autopoietischen Wende der 1980er Jahre eine ernüchternde Antwort: Komplexe Systeme, in denen Menschen mit ihren biologischen, psychischen und sozialen Aspekten einbezogen sind, lassen sich nicht determinieren, also nicht im Sinne des klassischen Ursache-/Wirkungsdenkens gestalten. Es kann als Hybris bewertet werden, solche Systeme planvoll beeinflussen und entsprechende Strategien implementieren zu wollen. Dies resultiert mindestens aus drei Bedingungen:


Erstens sind solche Systeme von einer solchen Vielzahl von Faktoren geprägt, dass es nicht möglich erscheint, diese gänzlich zu erfassen und diejenigen Faktoren zu isolieren, die für geplante Veränderungen manipuliert werden müssten.


Zweitens sind die unzähligen Einflussfaktoren wechselseitig vernetzt, so dass sie in Kreislaufprozessen miteinander interagieren. Daher kann jede Veränderung an einer Stelle der komplexen Dynamik an anderen Stellen nicht absehbare weitere Veränderungen bedingen, die auf die Ausgangsveränderungen rückwirken.


Und drittens sind Beobachtungen und Veränderungssversuche komplexer Prozesse äußerst zeitsensibel: Sie beziehen sich auf einen Moment der Dynamik, der flüchtig ist, weil sich im nächsten Moment bereits das komplexe Geschehen gewandelt haben kann. Wir können hier vom Ereignischarakter komplexer Systeme sprechen, deren Elemente und Dynamiken zeitinstabil sind, sich laufend variieren.


Die Corona-Pandemie ist augenscheinlich ein solch komplexer Prozess, der biologische, psychische und soziale Systeme betrifft, also unser gesamtes menschliches Dasein in seiner wechselseitigen und weltweiten Vernetzung umfasst. Wir haben es mit einem Phänomen zu tun, das durchaus als Gesundheitskrise bewertet werden kann. Aber Gesundheit darf hier nicht nur rein bio-medizinisch, nicht ausschließlich körperlich verstanden werden, sondern als variabler Zustand, der das gesamte Menschsein, also neben den biologischen, auch die psychischen, emotionalen und sozialen Dimensionen zu integrieren und einzubeziehen hat.


Seit nun knapp zwei Jahren sind wir in einer Situation, in der wir ein respiratorisches Virus nicht nur beobachten, permanent durch Schnell- und PCR-Tests in seinem Vorkommen auf menschlichen Schleimhäuten scannen und die Ergebnisse davon medial kommunizieren. Sondern wir versuchen auch, dieses Virus in seiner Verbreitung und krankmachenden Wirkung auf Individuen zu beeinflussen, zu kontrollieren bzw. hinsichtlich der menschlichen Population gänzlich auszumerzen. Genau dies können wir inzwischen recht klar als Hybris bewerten, nämlich als laufender Versuch, komplexe bio-psycho-soziale Prozesse in einer Weise zu manipulieren, die immer wieder scheitert.


Mit der Virus-Beobachtung wird eine Wirklichkeit konstruiert, die allererst aus dieser Beobachtung resultiert. Denn die Häufigkeit der Messung bedingt die Anzahl der gemessenen Infektionen. Interessant ist, dass von diesen so genannten Infektionen, besser: positiven Testungen nur ca. die Hälfte mit Symptomen einhergeht.* Wenn wir aber ein positives Testergebnis erhalten, dann beeinflusst dies unsere eigene Beobachtung auf unsere körperliche Konstitution. Wenn wir etwa nach einem solchen Test mit Angst reagieren, dann schwächt dies die natürliche Immunabwehr und befeuert möglicherweise die Krankheit, für deren Entdeckung und Linderung wir diesen Test eigentlich gemacht haben.


Die Psychoneuroimmunologie forscht seit Jahrzehnten an dem hoch sensiblen Zusammenspiel von Körper, Psyche und Sozialsystem. Deutlich wird dabei, dass im Vorfeld nicht klar ist, welche dieser drei Realitätsbereiche der „härtere“ ist, welcher also die jeweils anderen stärker, welcher sie weniger prägt oder eben von den jeweils anderen geprägt wird. So könnte es also sein, dass der Körper in der Interaktion mit einem Virus eine so „harte“ Realität ist, dass es egal ist, was wir darüber denken und wie wir sozial eingebettet sind. Es könnte sich aber auch zeigen, dass der mentale Zustand, die Art und Weise, wie wir über eine Infektion denken sowie uns mental und emotional darauf einstellen, ergänzt durch die Form unserer sozialen Einbindung und Zuwendung, die körperliche Auseinandersetzung mit dem Virus maßgeblich beeinflussen.


Um eine Pandemie zu bewältigen, wären – in diesem Paradigma gesprochen – mentale und soziale Prozesse erforderlich, die nicht nur die körperlichen Selbstheilungskräfte aktivieren, sondern das eigene Denken, Fühlen und Handeln dermaßen unterstützen, also auf Selbstheilung hin ausrichten. Dies entspricht sehr genau dem klassischen systemischen Interventionsverständnis, das wir seit den 1980er Jahren in allen komplexen bio-psycho-sozialen Zusammenhängen empfehlen: Mit den jeweils im Fokus stehenden Systemen, etwa mit Körpern, Psychen oder Sozialsystemen, so zu arbeiten, dass diese in ihrer Selbstaktivität gestärkt werden. Steuerung gelingt demnach nur, wenn diese zur Selbststeuerung der fokussierten Systeme wird.


Jetzt können wir uns die Frage stellen, ob dies in den letzten zwei Jahren tatsächlich geschehen ist. Ich jedenfalls habe den gegenteiligen Eindruck: In einer nie dagewesenen Weise wurden und werden die Menschen – politisch wie medial – auf ihre Angst vor Krankheit und Tod ausgerichtet. Und diese Krankheit finde ihren Lauf über andere Menschen, die durchaus gesund wirken könnten, aber trotzdem das gefährliche Virus verbreiten. Daher werden alle sozialen Kontakte mit Haltungen von Skepsis und Vorsicht kontaminiert. Unser Leben ist jedoch sozial, mithin grundsätzlich auf andere Menschen bezogen, auf Nähe und Vertrauen gebaut. Nun jedoch ist das bestimmende Merkmal sozialer Beziehungen Angst und Misstrauen geworden. Erst der negative Test offenbart, dass ein anderer Mensch „ungefährlich“ ist.


Neben dieser Kontaminierung sozialer Beziehungen mit Angst vor möglicher Virusgefahr werden Maßnahmen in Stellung gebracht, die die bereits benannte Kontroll-Hybris nähren. Neben den Abstandsgeboten sind es Mund- und Nasenschutz-Masken, permanentes Testen und die Impfungen, die zur Befreiung aus der Pandemie führen sollen. Aus einer komplexitätstheoretischen Perspektive sind all diese Versuche, ein respiratorisches Virus zu besiegen, das sich über die Luft verbreitet und permanent mutiert, also seine Gestalt wandelt, zum Scheitern verurteilt. Zudem wirkt dieses Virus ganz unterschiedlich: In Abhängigkeit von seinen Wirten, den Menschen, mit ihren ganz individuellen Immunsystemen, ihren jeweils sehr speziellen körperlichen Konstitutionen, psycho-emotionalen Einstellungen und sozialen Einbindungen laufen jeweils sehr eigenständige Prozesse ab.


Der Weg aus der Krise sollte daher zunächst sein, sich einzugestehen, dass wir mit einem respiratorischen Virus nicht kämpfen können, keinen Krieg führen können. Denn dieser ist bereits verloren, wenn er als Sieg die Ausmerzung des Virus anvisiert. Das Virus ist und bleibt da! Wir können vielmehr in Koexisenz mit diesem Virus leben und uns in unserer bio-psycho-sozialen Komplexität genau darauf einstellen. Das gelingt durch vielfältige Strategien, die darauf abzielen sollten, unsere Immunität zu unterstützen, mithin unsere Fähigkeit, uns mit einer möglichen Virusinfektion körperlich, psychisch, emotional und sozial so auseinanderzusetzen, dass unsere Selbstheilungskräfte gestärkt werden. Solche Strategien sind ganzheitlich, sie umfassen das gesamte Leben, betreffen die Ernährung, den psychischen Selbst- und den sozialen Fremdbezug, bestenfalls in einer wirtlichen Gesellschaft, die gesundheits- und nicht krankheitsfokussiert ist, also die Förderung von Salutogenese und Resilienz großschreibt. Auch Hygienemaßnahmen und Impfungen können dazu gehören, aber in differenzierter und abgewogener Weise, jedoch nicht als fabrikmäßige Maßnahmen, die Menschen wie (wenig komplexe) Maschinen behandeln.


 


*Zu diesem Thema der vielen asymptomatischen bzw. symptomlosen Infektionen gibt es inzwischen zahlreiche Studien. Ich will lediglich auf eine solche Arbeit hinweisen (Subramanian et al. 2021, https://www.pnas.org/content/118/9/e2019716118), die diesbezüglich besonders erstaunliche Zahlen präsentiert und etwa von der Frankfurtscher Rundschau (am 19.02.2021) aufgegriffen wurde: "Die Wissenschaftler Rahul Subramanian, Qixin He und Mercedes Pascual von der University of Chicago kamen zu dem Schluss, dass nur etwa 13 bis 18 Prozent der Covid-19-Patienten überhaupt Symptome zeigen" (https://www.fr.de/ratgeber/gesundheit/corona-ohne-symptome-so-viele-covid-infizierte-kein-husten-fieber-krankheitsanzeichen-covid-asymptomatisch-90211644.html). Gerade aus solchen Zahlen resultiert die wichtige Frage, ob Menschen das Virus verbreiten können, die garnicht merken, dass sie infiziert sind.