Über Bedürfnis, Angst und Unmöglichkeit... das Neue in die Welt zu bringen - Eine uralte, rätoromanische Sage

«Il cudisch dil striegn» ist eine rätoromanische Sage aus der Surselva. Sagt Anton Derungs 1938Sagt Peter Egloff 1982Zweisprachig wundervoll neu aufgelegt 2015 im Limmat Verlag. Mit Bildern von Steivan Liun Könz. Mit strengem Copyright belegt: «Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Rundfunksendungen und der Fernsehausstrahlung, der fotomechanischen Wiedergabe, auch einzelner Teile.» – Gott steh uns bei.


Stefan M. Seydel liest den hier abgelegten Text vor:



 


Eine Sage ist kein Märchen.


Obwohl Märchen freilich von Bedürfnissen, Ängsten und drohendem Unheil erzählen. Rotkäppchen. Zum Beispiel: Ein unschuldiges, kleines Mädchen im grossen, dunklen Wald im Gespräch mit einem listig-geifernden Wolf. Bald liegt er auch schon im Bett der tief schnarchenden Grossmutter. Nicht, ohne sich vorher an ihr genüsslich getan und sie umstandslos aufgefressen zu haben. Jetzt wartet das nackte Übel hübsch verkleidet. Gleich kommt das Kindlein mit ihrem liebevoll gepflückten Blumenstrauss nach Hause und schmiegt sich hemmungslos ins gemachte Bett. – «Wer Ohren hat, der höre


Es ist nicht so, dass die Menschen kein Wissen darüber haben, dass sie in gesellschaft der Gesellschaft mit offenen Augen in ihr eigenes Elend laufen.


Ganz im Gegenteil.


Die Soziale Frage stellt sich anders: Wie kommt eigentlich jenes lang ersehnte nächste Neue in die Welt? Wie lässt sich das Elend der Welt aufheben? So, dass das nicht mehr Passende wieder ein bisschen besser passt?


Nein: Nicht um das Paradies auf Erden zu errichten.
Nein: Nicht um ewig zu leben.
Nein: Die Auflösung ins Ideale ist nicht die Idee: Die spannende Spannung spannend halten, darum geht es.


Das Nächste wird nicht besser sein.
Aber auch nicht schlechter.
Und auch nicht gleich.
Aber es wird anders sein. Und Nächstes ermöglichen.


Sagen sägen am Sagbaren.


«Il cudisch dil striegn», zu deutsch «Das Zauberbuch», im Titel von Peter Egloff: «Das Zauberbuch des Pfarrers», sägt unter dem Deckel einer holistischen, ganzheitlichen, abgeschlossenen, totalitären Welt. Heute würden wir diese Welt vielleicht auch noch mit «digital» beschreiben. Digital im Sinne des 4. Axioms nach Paul Watzlawick: Es geht um eine zweiwertige Logik: Freund:Feind. Wahrheit:Lüge. Richtig:Falsch. Entweder:Oder. Ein bisschen Schwanger geht nicht.


Bekanntlich entstehen bei solch «digitalen Optionen» mindestens fünf Positionen:
1 entweder
2 oder
3 sowohl als auch
4 weder noch
5 Anders. Und anders als so.


Das ist nicht neu. Die Ausgangslage ist beschrieben. Die Grundlagen interessieren nicht.


Was aber erzählt nun diese Sage vom Zauberbuch des Pfarrers? Was haben sich die Geissenhirten und Kuhmelker mitten in den Bergen der Surselva über hunderte von Jahren hinweg in dunkler Nacht erzählt, um bloss nicht schon wieder einen Rosenkranz leiern zu müssen?


In einem grossen, sonnendurchfluteten Seitental der Surselva – eine ganze Tageswanderung vom Kloster in Dissent.is/Muster entfernt, in sicherem Abstand also – machen sich die Einfluss- und anders Reichen selbst ein Geschenk: Sie spenden mildtätig dem Kloster einen Priester für ihre Talschaft. Der Abt schickt – der grosszügigen Spende entsprechend – einer seiner umtriebigen, cleveren, neugierigen Pater.


Die Sage besagt, dass auch seine Haushälterin eine ausserordentlich fähige, pflichtbewusste, aufmerksame Frau ist. An einem Morgen – noch vor dem Frühstück – brütet der Pater schon wieder über jenem geheimnisvollen Buch, was er sorgsam ganz weit unter allerlei anderen Schriften zu unterst in seiner Truhe aufbewahrt. In Leder gebunden. Mit eisernen Schlössern gesichert. In kuriosem und konfusen Latein geschrieben. Die Glocken läuten bereits und schon rennt er selbstvergessen los, noch immer mit leerem Magen. Springt über den Bach Sankt Sebastian zu, die Messe zu lesen.


Während das Schmalzmus überm Feuer darauf wartet, mürbe zu werden – der Kaffee noch nicht einmal kocht – da putzt und fegt die Fleissige bereits die Schreibstube des Mönchs. Und da liegt dieses Buch offen vor ihr. Sie weiss wo suchen. Seite 77. Drei Zeilen müssen es sein. Eine Satz von vorne gleich zu lesen wie von hinten. Ein Palindrom. Sie erkennt es sofort. Wie oft flüsterten sie im Geheimen davon. Und sie liest. Den ganzen Satz. Von hinten nach vorne.


Mit einem gar nicht so lauten, schrecklichen Gepolter steht er da. Schön. Gross. Adrett. Ganz in grün. Die Gute erkennt den Leibhaftigen sofort. An seinen Ziegenfüssen. «Oh je, jetzt hat es mich erwischt!» entfährt es ihr. Er aber in klarem Ton: «Was willst du? Was habe ich hier zu tun?»


Sie scheint vorbereitet und verlangt vom Teufel, dass er das gestern gespaltene Holz aufschichten möge. Das ist keine Aufgabe. Kaum hat er hinter sich die Türe geschlossen, steht er schon wieder da. Die Arbeit sorgsamst und gekonnt erledigt. Möge er in der Speisekammer die Unkrautsamen vom Roggen trennen, verlangt die erschrockene Frau. Jetzt dauerts etwas länger. Nur wenig. Aber gerade lange genug, damit sich die Gute eine bessere Aufgabe ersinnen kann. Darauf hoffend, der Pfarrer möge endlich kommen und Ordnung in ihre Neugier bringen, gibt sie dem Ziegenfuss einen ganzen Ballen schwarzer Wolle. Möge er doch diese ganz weiss waschen, bitte.


Und schon drückt und knüllt, schnaubt und dampft es unten am Brunnen. Aber die schwarze Wolle bleibt schwarz. Was auch immer der Kräftigste unternimmt. Wie nun endlich der Pfarrer zurück kommt und die sonderbare Gestalt am Brunnen herumspritzen sieht, ist ihm klar, dass seine böseste Ahnung eingetroffen ist. Er rennt in seine Schreibstube und liest den drei Zeilen langen Satz auf Seite 77 von vorne nach hinten. Der Leibhaftige verschwindet mit einem knatternden Zack. Die beiden schmatzten ihr Mus. Schweigen. Im Ofen knistert das Buch und heitzt den Kaffee ein nächstes Mal auf.


Wie auch immer: Die Sage wird recht unterschiedlich erzählt. Und unterschiedlich gedeutet. Aber wer in einer geschlossenen Gesellschaft lebt, erkennt was keinem Knecht, auf keiner Alp, zu keiner Zeit erklärt zu werden braucht: Das, was jetzt hilfreich wäre, versteckt sich nicht. Hat einen Namen. Kann aus dem Nichts aufgerufen werden. Und wer sich routiniert verhält, schafft es spielend die Lösung wieder zum Verschwinden zu bringen und die bestehende Unordnung aller Dinge zu bewahren. (So?)




Zum Making Of im Blog des Autors
- inkl. 3 Tonspuren mit der Originalgeschichte nach Peter Egloff, in rätoromanisch vorgelesen und besprochen von Leo Tuor und diesem Text, gelesen vom hier Sammelnden.


Textversion vom: 12. Mai 2021, 12:35h - + ≠ #kulturlǝsɥɔǝʍ ¯\_(ツ)_/¯



Stefan M. Seydel/sms ;-)


Stefan M. Seydel, aka sms, : TwitterWikipediaYoutube (aktuell), SoundcloudInstagramSnapchatTikTokTwitch


(*1965), M.A., Studium der Sozialen Arbeit in St. Gallen und Berlin. Unternehmer, Sozialarbeiter, Künstler.


Ausstellungen und Performances in der Royal Academy of Arts in London (Frieze/Swiss Cultural Fund UK), im Deutsches Historisches Museum Berlin (Kuration Bazon Brock), in der Crypta Cabaret Voltaire Zürich (Kuration Philipp Meier) uam. Gewinner Migros Jubilée Award, Kategorie Wissensvermittlung. Diverse Ehrungen mit rocketboom.com durch Webby Award (2006–2009). Jury-Mitglied “Next Idea” Prix Ars Electronica 2010. Pendelte bis 2010 als Macher von rebell.tv zwölf Jahre zwischen Bodensee und Berlin. Co-Autor von “Die Form der Unruhe“, Umgang mit Information auf der Höhe der Zeit, Band 1 und 2, Junius Verlag Hamburg. Ruhendes Mitglied im P.E.N.-Club Liechtenstein. Er war drei Jahre Mitglied der Schulleitung Gymnasium Kloster Disentis. Seit Ende 2018 entwickelte er in Zürich-Hottingen in vielen Live-Streams – u.a. in Zusammenarbeit mit Statistik Stadt Zürich und Wikimedia Schweiz – den Workflow WikiDienstag.ch, publizierte während der Corona-Krise in der NZZ einen Text über Wikipedia, initiierte das #PaulWatzlawick-Festival 2020 mit und sammelt im Blog von Carl Auer Verlag, Heidelberg, «Elemente einer nächsten Kulturform». Im Juli 2020 kehrt er mit seinem 1997 gegründeten Unternehmen (Spin-Off mit Aufträgen der FH St. Gallen, Gesundheitsdirektion Kanton St. Gallen, Bundesamt für Gesundheit (BAG) und der EU aus einer Anstellung als Leiter Impuls- und Pilotinterventionen für die Aids-Hilfe St. Gallen/Appenzell) zurück nach Dissent.is/Muster, mitten in die Schweizer Alpen.