Brief 4 - König Shahrayâr - von Bardia

Liebe Leserin, liebe Andrea!


Danke für den Ball, den du mir hier zuspielst. Den nehme ich liebend gerne auf und werde sogleich so indirekt wie möglich antworten. Meine akademische, verstandesorientierte und psychoedukative Seite lässt sich aber nicht ganz verdrängen. Deshalb werde ich kurz hier die Unterscheidung zwischen „Verstehen“ und „Begreifen“ einführen. Es gibt viele Dinge, die wir verstehen, aber nicht begreifen. Wir können dann zwar die richtigen Gedanken denken und vielleicht sogar die richtigen Worte sagen, aber es fehlt ihnen die Haptik. Sie schwirren im Kopf und sie fallen aus dem Munde ohne unsere Seele berührt zu haben. Ein Beispiel: Ich hatte einen Klienten, der meinte, dass er mit der Endlichkeit der Existenz überhaupt kein Problem habe, er sei ja nicht blöde, er verstehe selbstverständlich, dass er und jeder andere einmal sterben müsse. So einfach wischte er Sigmund Freuds Hypothese weg, der einst sagte: „Im Grunde glaubt niemand an seinen eigenen Tod oder, was dasselbe ist: im Unbewussten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt.“


Die Rationalisierung verhindert manchmal das Eintauchen in die Ergriffenheit und damit die lebensverändernde Erfahrung. Das kann freilich auch mal hilfreich sein.


Verstehen ist eindimensional, es ist die Welt der logischen Erklärung, Begreifen dagegen nimmt den ganzen Körper in Anspruch, es ist eine multisensorische Erfahrung. Das ist ja auch das Problem der echten Probleme: man kann sie nicht einfach wegerklären. Doch nur wenn wir etwas Hilfreiches wirklich begreifen, sind wir am besten Weg das Begriffene auch leben zu können. Jemand kann uns die Noten von Beethovens Sinfonie Nr. 5 in c-Moll auf einem Notenblatt zeigen. Doch die weltberühmte Schicksalssinfonie will nicht erklärt oder gelesen werden. Das „Ta-ta-ta-taaaa“ muss uns am besten in einer unterkühlten Kirche durch Mark und Bein fahren. Musik erklärt nicht, sie lässt einen etwas fühlen, spüren, begreifen. Die Beschreibung eines Films auf Wikipedia zu lesen ist etwas ganz anderes, als in einen Film einzutauchen und mit den Akteuren mit zu leben. Wir, die wir versuchen, Menschen mit Worten tiefergehend zu erreichen, lernen erstaunlich selten von den Künsten! Doch ist es geradezu kennzeichnend für die Künste, dass sie einem nichts erklären wollen, sondern uns ergreifen und etwas begreifen lassen. Jeffrey Zeig, mein Freund und Mentor, beschreibt seinen legendären Mentor, den Begründer der modernen Hypnotherapie, Milton H. Erickson, als jemanden, der seine KlientInnen in erster Linie Erfahrungen machen ließ. Er arbeitete vorwiegend „experiential“, also erfahrungsorientiert, und dafür nutzte er Trance, hypnotische Phänomene, Aufgaben, Bestrafungen, Anekdoten, Humoresken, Metaphern, Konfusion, Mehrdeutigkeiten und noch vieles mehr. Zwei Zitate von Milton Erickson pointieren seine Erfahrungsorientierung:


1. „Experience can be very informative”
2. “Change will lead to insight far more often than insight will lead to change.”


Milton Erickson nahm die unmittelbare Veränderung, das Begreifen als Basis für das Verstehen. Für ihn war mit dem Verstehen zu beginnen schlicht der verkehrte Weg. Und er war nicht der erste, der das begriffen hat.


Machen wir eine Reise nach China in die Jahre 580-651, dort lebte und wirkte der Zen-Meister Tao-hsin.


Ein alter Mann bat Tao-hsin "Erzähl mir bitte vom Tod." Tao-hsin erwiderte "Es geht sehr lange, fast ewig und ist das schönste am Leben. Man ist dabei sehr glücklich." Der Mann gab ungläubig zurück "Das freut mich sehr, aber warum weißt du das?" Tao-hsin antwortete "Ich sterbe."


Reisen wir weiter in den Orient, in mein Vaterland, nach Persien.


König Shahrayâr hatte Unfassbares erlebt. Seine Frau hatte ihn mit einem Sklaven betrogen. Der König meinte aufgrund dieser Erfahrung zu verstehen, dass es keine treue Frau gibt. Er zog einen logischen Schluss, eine lange Ehe berge die Untreue in sich. Alleine wollte er aber auch nicht bleiben. Er heiratete also jeden Tag eine neue Frau. Sicherheitshalber ließ er alle Gemahlinnen am ersten Tag der Ehen töten, damit er nie wieder einen Ehebruch erleben müsste. Soweit sein origineller Lösungsversuch. Die überaus intelligente, eloquente und liebreizende Sheherezade beschloss, diesem männlichem Eitelkeitstreiben ein Ende setzen und ließ sich auf eine Ehe mit dem König ein. Nach der Trauung hätte sie nun versuchen können, ihrem Mann zu erklären, dass es doch nicht gescheit sei, jede Ehefrau zu töten, dass er bloß traumatisiert worden war usw. Sie hätte ihm auch schwören können, dass sie treu bliebe. Doch sie ahnte schon, dass das alles zwar rational richtig, aber aussichtslos gewesen wäre. Sie wählte eine andere Art der Vermittlung, sie wusste, dass er eine Erfahrung brauchte, die ihn begreifen ließ. Also erzählte sie ihm jeden Abend eine so unerträglich spannende Geschichte, dass er sie 1001 Nacht lang nicht umbringen ließ, weil er zu neugierig war, wie die Geschichte weiterginge. Im Laufe der Zeit hatten die beiden drei gemeinsame Kinder und er begriff, dass sie ihm treu bleiben würde, erfreute sich mit ihr des Lebens und bewunderte ihre Klugheit und Weisheit.


Zum Abschluss reisen wir noch ins 15. Jahrhundert an den Hof des französischen Königs.


Der Hofnarr namens Triboulet bespaßte die königliche Gesellschaft mit großem Erfolg. Im Übermut schlug er eines Tages dem König kräftig mit der flachen Hand auf seinen Hintern. Der war selbstverständlich erbost und verlangte eine sofortige Erklärung, um der schändlichen Tat mit Milde begegnen zu können. Triboulet sagte: „Entschuldigen Sie bitte, eure Majestät. Ich dachte, sie wären die Königin.“


Der König schäumte vor Wut und verurteilte den Hofnarren auf der Stelle zum Tode. Nachdem der Ärger auf dem Weg zur Exekution ein wenig abgeklungen war, erlaubte er dem Hofnarren aufgrund seiner langen und erfreulichen Dienstzeit, sich auszusuchen, wie er sterben wollen würde. Triboulet lächelte und sagte: „Das ist zu gütig von Ihnen, eure Majestät. Dann wähle ich das Alter.“


Der König musste lachen und begnadigte Triboulet.


So wurde aus dem Hofnarren der Vorläufer unseres Berufsstandes. Und Milton Erickson nahm diesen Ball wunderbar gekonnt und verspielt auf. Auch er musste während seines Lebens aufgrund von Krankheit (Polio) mehrmals dem Tod von der Schippe springen. Zu Lebzeiten pflegte er zu sagen: „I have no intention of dying. In fact, it will be the last thing I do!”


 


Bardia Monshi
Dr. Bardia Monshi

ist Gründer und Geschäftsführer des iVip - Institut für Vitalpsychologie in Wien. Seit 1999 als Psychologe, hypno-systemischer Coach, Trainer, Speaker und Autor tätig. Er ist ausgebildeter klinischer- und Gesundheitspsychologe und seit 2002 zertifizierter Arbeits- & Organisationspsychologe; Er arbeitet mit multinationalen Konzernen und Olympiasiegern; und ist selbst Kletterer ;)




Bardia Monshi
Dr. Andrea Köhler-Ludescher

Gründerin und Vorsitzende des Paul Watzlawick Instituts (Wien); freie Journalistin und Autorin/Biografin von Watzlawick, ihrem Großonkel; sie ist als hypno-systemische Change Coach, Organisationsberaterin und international Vortragende tätig; mag das Schauspiel und das Schöne, schätzt die Stille und die Stimmung. koehler-ludescher.at/