Brief 7 - Bilder-Markt der Wirklichkeitskunst - von Andrea

Kon[struk]textualisierung


Lieber Oliver,


welcome, es ist mir eine Freude! Womit wir nun beim Konstruktivismus wären, oder vielmehr sind … hmm … wovon reden wir denn da… Konstruktivismus bei Onkel Paul/Paul Watzlawick … ein zentrales Element ist meines Erachtens der Satz „Es gibt keine Wahrheit“; bzw. ist das der Text des Magazins Spiegel dazu; beziehungsweise schrieb es der Journalist in dieser Weise; beziehungsweise wurde es so abgedruckt und können die Leser, ich, es heute so lesen (siehe https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9286027.html). Ich möchte, um den Satz im Sinne Watzlawicks zu verstehen, damit er nicht irreführend ist, ergänzend formulieren: „Es gibt keine objektive Wahrheit“. Denn der Philosoph Watzlawick betrachtete die Epistemologie des Konstruktivismus im Kontext der Pragmatics of Human Communication – so heißt sein erstes Buch – also zwischenmenschlicher Kommunikation; wie er es später in populärer Weise mit der Geschichte vom Hammer [in: Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein (Piper Verlag 1983)] verdeutlicht, welche die Konstruktion innerer subjektiver Wirklichkeitsbildung in rückgekoppelter Interaktion – Stichwort 3. Axiom – mit anderen Menschen zum Ausdruck bringt. Dies führt uns in humorvoller Weise den Spiegel zu eigen-konstruierten Alltagsverstrickungen vor Augen und zeigt, dass es keine absolute und beobachterunabhängige Wirklichkeit gibt; womit wir bei den zwei Wirklichkeiten von Watzlawick wären, die ich gleich erklären möchte. Sind meine Überlegungen bis dato nachvollziehbar für Dich? Wo möchtest Du eventuell gedanklich abbiegen oder nachhaken?


Die gefährlichste aller Selbsttäuschungen…


Paul Watzlawick meint, die Wirklichkeit ist immer eine Wahrnehmungs-Konstruktion innerhalb unserer jeweiligen physischen und psychischen Grenzen – das heißt beispielweise für die Wahrnehmung der Farbe „rot“, dass unser Auge mit den entsprechenden Rezeptoren diese Wellenlänge des Lichtes aufnimmt und diese dann in unserem Gehirn zu dem verarbeitet, was wir sprachlich als „rot“ bezeichnen. Ob dieser Prozess bei allen Menschen gleich ist und ob wir auch nur annähernd dasselbe sehen, wenn wir über „rot“ reden, ist somit sehr fragwürdig, das heißt der Grad der Intersubjektivierbarkeit ist wohl sehr verschieden. Objektive Wirklichkeit 1. Ordnung sind für Watzlawick faktische Abläufe und objektiv unbezweifelbare Tatsachen, zum Beispiel Bäume und Blumen, die uns von unseren Sinnesorganen vermittelt werden, wenn wir über ein „normal“ funktionierendes Zentralnervensystem verfügen. Anders sah es zum Beispiel Kant, der von der „Welt der Erscheinungen“ und dem „Ding an sich“ spricht, so ich das richtig verstehe. Die subjektive Wirklichkeit zweiter Ordnung sieht Watzlawick nun als das Ergebnis verschiedener Bedeutungszuweisungen – es ist die Ebene der Wert-, Bedeutungs- und Sinnzuschreibung, das heißt der unterschiedlichen Weltbetrachtungsbilder, die nicht objektiv und ein für alle Mal für alle Menschen beschrieben und klar definiert sind. Somit: Es gibt keine objektive Wahrheit, nur unterschiedliche subjektive Wahrheiten; und Watzlawick – als Kind des 2. Weltkrieges und Schüler von Krishnamurti; aber dazu später – formuliert: „Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste aller Selbsttäuschungen“.


Ein Glas Wasser – halb voll oder halb leer?


Als konkretes Beispiel nennt er ein Glas Wasser mit etwa „hälftigem“ Inhalt: so mag der Pessimist das Glas als halb leer bezeichnen, der Optimist als halb voll. Die Wirklichkeit 1. Ordnung besagt – im Glas mit einer Höhe von 10 cm steht bis zur Zentimeter-Markierung 5 das Wasser, und dazu wird es eine breite Übereinstimmung geben können. Was aber die Bedeutungszuschreibung angeht – ob das Glas voll oder leer ist – das wird individuell sehr verschieden sein, das heißt die Wirklichkeit 2. Ordnung ist subjektiv unterschiedlich. Oder zum Edelmetall Gold, das im Periodensystem objektiv definiert ist; ob ein Mensch mit Goldbesitz zu einem bestimmten Zeitpunkt jedoch Krösus oder Bankrotteur ist – diese subjektive Wertzuschreibung wechselt laufend mit der Goldbewertung durch die Londoner City-Jungs; und ob ein Mensch ein schlimmes Erlebnis als Anlass zu als depressiv-ge“label“ten, leidvollen Verhaltensweisen nimmt oder als wertvolle Lernerfahrung sieht, das ist eine höchst individuelle Sinnzuschreibung – mit oft sehr weitreichenden Konsequenzen für die Lebensqualität.


Der Bilder-Markt der Wirklichkeitskunst


Was ist nun meines Erachtens die praktische Relevanz des Beschriebenen? (Und ich bin gespannt, was Du hervorhebst) Was ist die Relevanz für systemisch-konstruktivistische Therapeuten, Berater, Mediatoren, Sozialhelfer, Politiker und Journalisten? Watzlawick als Therapeut wollte Leiden lindern: „Wir können immer nur in Bildern der Wirklichkeit und nicht der Wirklichkeit selbst sprechen.“ Wenn Menschen zu Watzlawick kamen, litten sie an selbst-erschaffenen Bildern der Wirklichkeit, die sie oft gegen sich selbst verwenden (siehe das Beispiel vom „Hammer des Nachbarn“); und leidvolle Bilder kann man ändern, umerzeugen, was man ersterzeugt hat, und diese (Unterstützungs- oder Begleitungs-)Rolle übernimmt der Therapeut oder Berater; damit kann das halbleere Glas Wasser zum halbvollen Glas werden; die Bankrott-Stimmung in der Firma sich zur Goldgräberstimmung wandeln; die mediale Meinungs-Markt-Geschichte zum Virus vom Social Distancing/Lock-Down zu einem emotionalen Close-Up in einer neuen Form werden.


 


Oliver Martin
Oliver Martin

Luzern, ist Gesellschafter Trigon Entwicklungsberatung, Organisationsberater BSO, Mediator SDM, Senior Coach DBVC, Lehr-Trainer DGfS, Master Trainer infosyon, Dozent Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule Luzern, Hochschule der Künste Bern, Milton Erickson Institut Heidelberg, Metaforum SommerCamp, Gast-Dozent Universität Tiflis; Berät seit 2003 Organisationen der freien Wirtschaft, des NGO-Sektors und von Verwaltungen sowie im Zusammenspiel Politik-Gesellschaft-Wirtschaft; Leitung von Lehrgängen in Organisationsentwicklung, Mediation und Persönlichkeitsentwicklung. Forschungsschwerpunkt: Verbindung der Trigon-Beratungsmodelle mit den hypnosystemischen Konzepten von Gunther Schmidt und den syntaktischen Ideen und Formaten des SySt-Instituts zu einem systemisch integrierten Beratungsansatz.




Bardia Monshi
Dr. Andrea Köhler-Ludescher

Gründerin und Vorsitzende des Paul Watzlawick Instituts (Wien); freie Journalistin und Autorin/Biografin von Watzlawick, ihrem Großonkel; sie ist als hypno-systemische Change Coach, Organisationsberaterin und international Vortragende tätig; mag das Schauspiel und das Schöne, schätzt die Stille und die Stimmung. koehler-ludescher.at/