Brief 9 - Eseleien und die Aufgabe der Wissenschaft - von Andrea

Lieber Oliver,


so interessante Fäden, die da vor mir liegen – welchen will ich aufnehmen? Welcher kann m.E. dazu dienen, für die Leser ein verständliches und ansprechendes Muster zu weben? Wie gehe ich gleichzeitig gut auf Dich ein? Auf welche Frage antworte ich, die Du mir in/direkt gestellt hast? Nun, es lächelt die Frage nach den grundlegenden Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, die über Modellbildung und Konzeptionen Orientierung geben können, die Frage nach – auf logischen Strukturen beruhenden – Schemata, die universell anwendbar sind, die nach Varga von Kibéd, wie du schreibst, den Strukturen des menschlichen Bewusstseins entsprechen; wie beispielsweise das negierte Tetralemma nach Nagarjuna. Welche Ansicht hätte der Konstruktivist Watzlawick vertreten – zur Frage, ob es „solche Prinzipien oder Gesetzmäßigkeiten gäbe, und es unser Bemühen wäre, solche zu finden, um sie hilfreich und für die Anliegen von Menschen zieldienlich nutzen zu können“.


Never second hand!


Ich kann heute nicht wissen, was Onkel Paul damals geantwortet hätte, aber ich habe zwei Gedanken aus seinem Werk dazu. Von „Formen, Störungen, Paradoxien“ spricht er im Buch „Menschliche Kommunikation“ – und bezieht sich damit auf syntaktische Formen wie Bestätigung, Abwertung und Verwerfung. Dass er mit einer „Grammatik“ arbeitet, hat er insbesondere in seinem hypno-therapeutisch-kommunikativen Buch „Die Möglichkeit des Andersseins“ ausdrücklich betont; das war ihm wichtig. Von Krishnamurti hat er in den 50ern aus Indien mitgebracht: „Never second hand!“ – Nach Krishnamurti kann „niemand für einen anderen die Wahrheit postulieren. Das Einzige, was zählt, ist die unmittelbare Erfahrung dazu, und Erfahrung steht nur für sich. Never second hand – niemals kann sie aus zweiter Hand kommen. Der Mensch kann in Isolation nicht existieren. Das Dasein erfolgt in Beziehungen. Aber die Beziehung mit anderen kann nicht harmonisch und kreativ sein, solange der Einzelne nicht wahrhaftig mit sich selbst in Einklang steht. Mit sich selbst in Einklang zu stehen, bedeutet, sich seines Selbst jeden Moment bewusst zu sein, sich selbst zu verstehen, die eigenen Probleme zu lösen und sich laufend neu zu erschaffen.“


Eseleien


Und mir fällt da eine persische Geschichte – wohl nach Idries Shah – ein, die Watzlawick oft erzählt hat:


Ein Vater ist mit seinem kleinen Sohn an einem heißen Tage auf einer staubigen Straße auf ein fernes Ziel unterwegs. Der Vater reitet auf dem Esel, der Kleine geht nebenher. Da kommt ihnen eine Gruppe von Leuten entgegen, und der Vater hört, wie die sagen: »Schaut euch das mal an. Der Vater, der reitet auf dem Esel, und der Kleine muss zu Fuß gehen an diesem heißen Tage. Hat denn der gar kein Mitleid mit seinem Sohn?« Auf das hinauf steigt der Vater ab, gibt den Kleinen auf den Esel hinauf und es geht weiter. Da kommt eine Gruppe von Personen wieder in der Gegenrichtung und der Vater hört, wie die sagen: »Schaut euch das mal an. Der Vater geht zu Fuß, der Kleine reitet auf dem Esel. Was soll denn aus diesem Kleinen mal werden, wenn er jetzt schon so verwöhnt wird?« Darauf besteigt auch der Vater den Esel und zusammen reiten sie weiter. Da kommt eine Gruppe von Personen in der Gegenrichtung. Der Vater hört, wie diese sagen: »Da schaut euch das mal an. Beide zusammen reiten den Esel. Dieses arme Tier. Ja, haben die denn kein Mitleid?« Auf das hin steigt der Vater ab, nimmt den Kleinen vom Esel herunter und sie beginnen zusammen den Esel zu tragen. Da kommt eine Gruppe in der Gegenrichtung und die sagen ... Na, ich überlasse es Ihnen, sich vorzustellen, was die sagen!


Wie sähe hier aus Deiner Sicht ein kurativer syntaktischer Umgang für einen Anliegenbringer Deiner Wahl aus der Geschichte aus? Um die Theorie an einem konkreten Beispiel kurz zu veranschaulichen?


Die Aufgabe der Wissenschaft


Watzlawick betonte, auch der Konstruktivismus ist selbstverständlich nur eine Konstruktion – im Sinne von: „Die Aufgabe der Wissenschaft besteht nicht in der Wahrheitserkenntnis, sondern sie hat vielmehr die Aufgabe, Methoden auszuarbeiten, die für einen ganz bestimmten Zweck brauchbar sind und die womöglich schon nach kurzer Zeit durch wirkungsvollere ersetzt werden. Mit der Erfassung einer absoluten Wahrheit hat das nichts zu tun. Die heutige Sicht der Dinge kann sich morgen schon als untauglich und nicht mehr nützlich erweisen.“ [in: P. Watzlawick, Man kann nicht nicht kommunizieren. Das Lesebuch; zusammengestellt von Trude Trunk und mit einem Nachwort von Friedemann Schulz von Thun (Verlag Hans Huber/Hogrefe, 2011); zuerst erschienen in: B. Pörksen, Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus (Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2002)


Zur Frage nach der Struktur des Bewusstseins finden sich beispielsweise auch bei Alfred Korzybski, Karl Pribram, Ken Wilber, Robert Monroe, Bonnie Bainbridge Cohen oder Connirae Andreas sehr unterschiedliche Formen und Aspekte – welche sind „wahr“ im Sinne von grundlegenden Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten? Bzw. welche sind in welchem Kontext hilfreich – für ein „gutes“ Ergebnis? Wie steht es um Seele mit und ohne Körper? Und um die Wirkung der Sprache? Das eine? Oder das andere? Vielleicht mehrere? Oder keines davon? Oder all dies nicht, und auch das nicht? ;)


The floor is …äh… lines are yours again ;)


 


Oliver Martin
Oliver Martin

Luzern, ist Gesellschafter Trigon Entwicklungsberatung, Organisationsberater BSO, Mediator SDM, Senior Coach DBVC, Lehr-Trainer DGfS, Master Trainer infosyon, Dozent Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule Luzern, Hochschule der Künste Bern, Milton Erickson Institut Heidelberg, Metaforum SommerCamp, Gast-Dozent Universität Tiflis; Berät seit 2003 Organisationen der freien Wirtschaft, des NGO-Sektors und von Verwaltungen sowie im Zusammenspiel Politik-Gesellschaft-Wirtschaft; Leitung von Lehrgängen in Organisationsentwicklung, Mediation und Persönlichkeitsentwicklung. Forschungsschwerpunkt: Verbindung der Trigon-Beratungsmodelle mit den hypnosystemischen Konzepten von Gunther Schmidt und den syntaktischen Ideen und Formaten des SySt-Instituts zu einem systemisch integrierten Beratungsansatz.




Bardia Monshi
Dr. Andrea Köhler-Ludescher

Gründerin und Vorsitzende des Paul Watzlawick Instituts (Wien); freie Journalistin und Autorin/Biografin von Watzlawick, ihrem Großonkel; sie ist als hypno-systemische Change Coach, Organisationsberaterin und international Vortragende tätig; mag das Schauspiel und das Schöne, schätzt die Stille und die Stimmung. koehler-ludescher.at/