Brief 19: Was lernt Watzlawick beim body movement man? von Andrea

Werter Leser*In!
Liebe Sophia!


Ich bin beeindruckt, wie gut Du Deine Beispiele ausführst und wie klar Du analysierst! Ich in Deinem Alter hätte das zu den Axiomen so nicht vermocht! Und – oh ja, es ist wohl ein Leben lang eine Herausforderung, jemandem meta-kommunikativ zu sagen: „Das, was Sie sagen, verstehe ich nicht. Wollen Sie es mir erklären – oder wollen Sie mich bloßstellen?“


Das 4. Axiom: Watzlawick lernt beim body movement man


Hmm … dann hätten wir noch 3 Axiome offen – welches nehmen wir denn … ich werd uns das 4. Axiom wählen – analoge und digitale Kommunikationsformen – weil „heutzutage“ das stark technikbehaftete Schlagwort „Digitalisierung“ in so vieler Munde ist und wir m.E. ob der Corona-Online-Welt eine Balance zugunsten der „Qualitäten“ der Aug-in-Aug-Erfahrung stärker wiederentdecken können. Die Unterscheidung in digitale und analoge Kommunikationsformen haben Watzlawick/Beavin/Jackson schon (in ihrer spezifischen Definition) in den 60er Jahren betont, um ihr Modell vom damals vorherrschenden Sender-Signal-Empfänger-Modell von Shannon und Weaver, welche in den 50ern eine eher nachrichtentechnik-fokussierte Kommunikationstheorie entwickelt hatten, abzugrenzen. Im Fokus der Menschlichen Kommunikation (MK 1.1) standen nicht die traditionellen Sender-Zeichen- und Zeichen-Empfänger-Relationen, sondern die soziale, zwischenmenschliche Sender-Empfänger-Beziehung auf Basis der Kommunikation; auch lag ihr Fokus auf inter-aktionalen kommunikativen Phänomenen anstelle von intra-psychisch bzw. seelisch-mentalen Phänomenen. (MK 2.21 und 2.22)


Es ist kaum bekannt, dass Watzlawick, als er aus San Salvador in die USA kam, im November 1959 Forschungsbeauftragter am Institute of Study of Psychotherapy der Temple University in Philadelphia wurde und quasi am Rande eines legendären Stanford-Projektes, des „Natural History of an Interview“-Projekts, mit Albert Scheflen und Ray Birdwhistell an Studien zur Körpersprache arbeitete. Sie machten Filmaufnahmen über averbale Kommunikation in Form von Bewegungsphasen und analysierten beispielsweise die Einzelaufnahmen einer Hand – wie sie sich Zentimeter um Zentimeter bewegt. „Zwei Menschen, die sich unterhalten, tauschen in einer Minute einhunderttausend Informationsteilchen aus“, schätzte Birdwhistell, der „body movement man“. „Eine innovative und faszinierende Arbeit. Wir studierten Therapiesitzungen, beobachteten sie und diskutierten sie danach“, beschrieb Watzlawick die Tätigkeit einmal in einem Interview. (Details siehe Köhler-Ludescher, Paul Watzlawick, die Biografie, Hogrefe Verlag; Fn 6, 53, 91)


Analoge Ähnlichkeits*beziehungen und digitale Namen


Watzlawick/Beavin/Jackson schreiben zum 4. Axiom (MK 2.51) u.a.: Im Nervensystem [des Menschen] werden Signale grundsätzlich auf zwei verschiedene Arten übermittelt: durch die Neuronen mit dem ihnen eigenen Alles-oder-nichts-Charakter ihrer Entladungen und durch die Aktivität ihrer innersekretorischen Drüsen, die Hormone als Informationsträger in den Blutkreislauf einführen. Bekanntlich existieren diese beiden intra-organismischen Kommunikationsformen nicht nur nebeneinander, sondern ergänzen und durchdringen einander in oft sehr komplexer Form; und sinngemäß: Auf dem Gebiet der menschlichen Kommunikation gibt es zwei Weisen, in denen Objekte dargestellt werden – sie lassen sich entweder durch eine Analogie (die eine grundsätzliche *Ähnlichkeits*beziehung* zum Gegenstand hat, für den sie steht, z.B. eine Zeichnung) ausdrücken, oder durch einen Namen. Der Unterschied zwischen analoger und digitaler Kommunikation wird vielleicht etwas klarer, wenn man sich vor Augen hält, dass bloßes Hören einer unbekannten Sprache, z.B. im Radio, niemals zum Verstehen dieser Sprache führen kann, während sich oft recht weitgehende Informationen relativ leicht aus der Beobachtung von Zeichensprachen und allgemeinen Ausdrucksgebärden ableiten lassen, selbst wenn die sie verwendende Person einer fremden Kultur angehört. Analoge Kommunikation hat ihre Wurzeln offensichtlich in viel archaischeren Entwicklungsperioden und besitzt daher eine weitaus allgemeinere Gültigkeit als die viel jüngere und abstraktere digitale Kommunikationsweise.


Du hast das Klavierkonzert falsch gehört!


Einen Konnex zum 2. Axiom stellen die Autoren her: „Wir dürfen ferner vermuten, dass der Inhaltsaspekt digital übermittelt wird, der Beziehungsaspekt dagegen vorwiegend analoger Natur ist.“ Etwas schwer fassbar lautet dann m.E. die „Formulierung“ des 4. Axioms (MK 2.55): Menschliche Kommunikation bedient sich digitaler und analoger Modalitäten. Digitale Kommunikationen haben eine komplexe und vielseitige logische Syntax, aber eine auf dem Gebiet der Beziehungen unzulängliche Semantik. Analoge Kommunikationen hingegen besitzen dieses semantische Potential, ermangeln aber die für die eindeutige Kommunikation erforderliche logische Syntax. Die zwei Formen stehen nicht nur nebeneinander, sondern ergänzen sich in jeder Mitteilung (mit ihrer jeweiligen Funktion) gegenseitig; und führen auch – zu Übersetzungsproblematiken. Die Analogiesprache besitzt so grundlegende Sinnelemente wie „wenn – dann“ und „entweder – oder“ nicht, der Ausdruck abstrakter Gedanken ist nicht möglich, es gibt keinen Ausdruck für „nicht“ (MK 2.5 und 3.53).


So ist nicht immer sofort klar, ob Tränen der Trauer oder der Wut gelten, ob ein Lächeln Sympathie oder Verachtung ausdrückt. „Bedeutet“ eine analoge Mitteilung in Form eines Geschenkes (MK 3.51) einen Ausdruck der Zuneigung, Bestechung oder Wiedergutmachung? Im Verhalten von Nationen – wie wird post-diplomatische Analogiekommunikation wie Mobilisierung, Truppenkonzentration und dergleichen aufgefasst und beantwortet? Wie soll es möglich sein, das (analoge) Erlebnis eines Klavierkonzerts nachvollziehbar bis ins kleinste Detail (digital) zu beschreiben und zwischen Menschen zu vergleichen!? Und ggf zu kommentieren: „Du hast es falsch gehört!“ – Das wäre doch absurd, finde ich; oder: Deuten oder zeichnen Sie mir bitte die Aussage: „Demokratie erfordert informierte Teilnahme.“ Hmm… machen wir es leichter: Zeichnen Sie die banale Aussage: „Hier steht kein Auto.“ Und die Autoren zitieren ihren Mentor Gregory Bateson (MK 2.53), wonach beim Kühlschrank-öffnen eine Katze am Bein des Menschen sinngemäß kommuniziert: „Sei meine Mutter!“ und damit als Wunsch an eine Beziehungsform appelliert (im Gegensatz zu einem Menschen, der wohl sagen würde: „Gib mir Milch!“).


Wie kreativ würze ich meine Alltagskommunikation?


Mit Blick auf unseren Alltag heute: In der Online-Kurzkommunikation des (mobilen) Internets – wieder ist (wie bei Shannon/Weaver) die Technik im Spiel – gab es oft Missverständnisse. Und als dann langsam – aus gutem Grund :-) – die Emojis und Piktogramme – analoge Kommunikationsformen – aufkamen, waren es ursprünglich einige wenige Formen; bis inzwischen u.a. die Gesichter wesentlich mehr und ausdifferenzierter geworden sind; und je nach Kontext und unterschiedlich kreativ genutzt werden.


In der wissenschaftlichen Welt gibt Janet Beavin in einem Interview (McKergow, Mark; Fifty years of the Interactional View – an interview with Janet Bavelas; in: InterAction – The Journal of Solution Focus in Organisations, Volume 5, Number 2, November 2013, pp. 92-116) Beispiele: [analogic and digital…] Pierce said symbols versus icons; and Herb Clarke (…) called them describing versus demonstrating. (…) Our experiments have shown, that relationship for hand-gestures, figurative language, facial gestures and direct quotations, which are all forms of analogic communication [in the sense that it actually looks or sounds what it means], are significant lower in monologue than in dialogue.


Was ist eine weitere praktische Relevanz? Für Watzlawick waren analoge Formen, oft „analoge Markierungen“ genannt, im Rahmen seiner trance-induzierenden bzw. hypno-kommunikativen Therapeutenarbeit sehr wichtig; bspw. das bewusste Einsetzen der Stimme mittels Lautstärke, Sprechpausen, Betonung, Sprechgeschwindigkeit; oder Formen der Physiologie anhand von Mimik, Gesten, Richtungs- und Raumanker. Auch im Alltag stellen sie m.E. die Würze der Sprache und Kommunikation dar. So beschreiben 0 und 1 in der Digitalsprache der IT-Welt einen klaren, eindeutigen Gegensatz; bei Menschen kann aufgrund der analogen Färbung ein äußerst zögerliches „ja“ jedoch ein „nein“ bedeuten und ein ironisches „nein“ vielmehr ein „ja“ ausdrücken. Diese Ambivalenzen und Ambiguitäten lassen es dauernd „menscheln“; wir sind uns vielleicht oft nicht bewusst, wie sehr diverse, auch kreative analoge Formen in ihrer kaleidoskopischen Vielfalt (positiv) kommunikativ beziehungsbildend wirken können.


Sophia, Du hast oder hattest ja Unibetrieb in Corona-Zeiten und wohl viele Online-Kurse – welche Elemente machen denn mit Blick auf das 4. Axiome eine interessante Vorlesung aus? Oder eine gelungene Online-Gruppenarbeit? Welche Unterschiede siehst Du zwischen Online und Onsite? Wo sonst im Leben eines (jungen) Menschen siehst Du Bezüge zum 4. Axiom? Auch in Zusammenhang mit dem 2. Axiom?


Freue mich schon auf Deine Beobachtungen!


Liebe Grüße!
Andrea


 


Sophia Saad
Sophia Saad

ist aufgewachsen und wohnt in Riegel. Schulabschluss Abitur 2019, Aufenthalt im Libanon nach dem Abitur (Familie väterlicherseits). Studienbeginn Liberal Arts and Sciences Wintersemester 20/21. Hobbys: Reiten und Lesen. Derzeit auch in Ausbildung zur Mediatorin.




Andrea Köhler-Ludescher
Dr. Andrea Köhler-Ludescher

Gründerin und Vorsitzende des Paul Watzlawick Instituts (Wien); freie Journalistin und Autorin/Biografin von Watzlawick, ihrem Großonkel; sie ist als hypno-systemische Change Coach, Organisationsberaterin und international Vortragende tätig; mag das Schauspiel und das Schöne, schätzt die Stille und die Stimmung. koehler-ludescher.at/