Differenzierung: Theorie und Empirie

Die Fähigkeit, ein klares Selbst-Bewusstsein in intimer Nähe zu einem emotional relevanten Partner aufrechtzuerhalten, ist eine entscheidende Voraussetzung für befriedigende Sexualität. Das ist der Kern des Differenzierungs-Konzepts von David Schnarch. Therapeutisch leuchtet das unmittelbar ein. Aber nicht alle einleuchtenden Konzepte sind auch empirisch belegbar.


Umso wertvoller ist eine eben publizierte Studie an 230 australische Frauen, die besagt: Sexuelle Funktionsstörungen sind häufiger bei Frauen mit geringerer Differenzierung und bei Frauen mit einem vermeidenden Bindungsstil  und einer größeren Bindungsangst.


 Ja. Aber: wie immer, wenn man theoretisch und klinisch hoch evidente Konzepte durch die empirische Prüfung laufen lässt, sind die Zusammenhänge schwächer als sie die Theorie gern hätte.  So erklärt die Differenzierung gerade mal 11% Varianzanteil an der sexuellen Funktion.


„Nur?“ dürften Therapeuten staunen. „Immerhin“ dürften Forscher antworten.


Ich glaube, das ist ein Grund, warum Therapeuten ungern empirische Studien lesen: Entweder belegen die, was man eh schon wusste – dann werden sie als überflüssig erlebt. Oder sie relativieren theoretische Zusammenhänge und klinische Konzepte so stark, dass sie einem den Spaß an der klinischen Evidenz verderben.


Quelle: Journal of Sexual Medicine 11, 2014, 2188-2195