Gesellschaft

engl. society, franz. société f. Dass die Lebensführung jedes Einzelnen in der modernen Gesellschaft von ökonomischen, politischen, rechtlichen, medialen usw. Strukturen und Prozessen abhängig ist und beeinflusst wird, von die Reichweite des eigenen Handelns und den direkten Erfahrungszusammenhang überschreitenden Formen der Vergesellschaftung, ist unschwer nachvollziehbar. »Gesellschaft« verweist entsprechend auf soziale Zusammenhänge (Sozialsystem), die über direkte Beziehungen zwischen konkreten Personen in Interaktionen, Familien und Kleingruppen (Gruppe) sowie über die Strukturen von Organisationen (Betrieben, Schulen, Verwaltungen usw.) hinausreichen. Von Gesellschaft zu reden, meint insofern auf »ein Gefüge zwischen Menschen« hinzuweisen, »in dem alles und alle von allem abhängen« (Adorno u. Horkheimer 1956, S. 22).


In der neueren soziologischen Systemtheorie wird unter Gesellschaft der umfassende Zusammenhang aller füreinander erreichbaren Kommunikationen verstanden (Luhmann 1997, S. 16ff.). Demnach sind die Grenzen von Gesellschaft nicht mit den Grenzen von Nationalstaaten identisch, sondern es ist von einer (intern in Zentren und Peripherien untergliederten) Weltgesellschaft auszugehen. Staaten werden entsprechend als spezifische Strukturbildungen des politischen Systems, nicht der Gesellschaft insgesamt betrachtet. Die systemtheoretische Gesellschaftstheorie geht weiter davon aus, dass sich alle sozialen Operationen innerhalb des Gesellschaftssystems vollziehen und dass durch die Strukturen des Gesellschaftssystems nicht beliebige Bedingungen für »gesellschaftsinterne Systembildungen« (ebd., S. 14), also z. B. für Organisationen und Familien, gesetzt sind. Weiter wird angenommen, dass die Lebensführung der Einzelnen mit der Etablierung moderner Gesellschaften in zunehmende Abhängigkeit von den Leistungen der gesellschaftlichen Teilsysteme – also von Erwerbsarbeit im Wirtschaftssystem, Erziehung im Erziehungssystem, Krankheitsbehandlung im Gesundheitssystem usw. – gerät.


In zahlreichen Zusammenhängen wird die systemtheoretische Gesellschaftstheorie luhmannscher Prägung als Gegenposition zu Varianten kritischer Gesellschaftstheorie dargestellt. Im Zusammenhang damit wird sie unter den Verdacht gestellt, zentrale Probleme der Gegenwartsgesellschaft zu verkennen und eine affirmative Haltung zur bestehenden gesellschaftlichen Ordnung einzunehmen. Solche Sichtweisen verstellen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihren theoretischen Annahmen. Denn ein Verständnis der Gegenwartsgesellschaft als einer Gesellschaft, die eine fortschreitende Verbesserung der Lebensbedingungen ermöglicht, wird dort – in Abgrenzung gegen die älteren Modernisierungstheorien – ausdrücklich zurückgewiesen (s. Luhmann 1996). Dies verbindet sich u. a. mit einer Analyse der Frage, ob die moderne Gesellschaft in der Lage ist, ökologische Gefährdungen zu bewältigen (Luhmann 1986) und mit der Thematisierung von Exklusionsprozessen (Inklusion), d. h. von Prozessen der Ausschließung von Individuen (Individuum) von den Leistungen gesellschaftlicher Teilsysteme (Luhmann 1996, 1997, S. 618 ff.). Auch die fortwährende Bedeutung sozialer Ungleichheiten wird keineswegs infrage gestellt (s. Luhmann 1997, S. 1055 ff.). Zentrales Merkmal moderner Gesellschaften sind in der Perspektive der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie jedoch nicht ihre Ungleichheitsverhältnisse, sondern ist die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen.


Bevor darauf eingegangen werden kann, ist zunächst knapp auf den theoretischen Sinn des luhmannschen »Antihumanismus« hinzuweisen: Die Ablehnung der tradierten Annahme, dass »eine Gesellschaft aus konkreten Menschen und den Beziehungen zwischen Menschen bestehe« (ebd., S. 24), basiert nicht auf einer normativen Option, z. B. für oder gegen menschenrechtliche Normen, sondern auf der theoretisch begründeten Entscheidung, Sozialsysteme als »emergente« (d. h. eigengesetzliche und eigendynamische) Kommunikationszusammenhänge zu analysieren. In der Folge ist es für Luhmann zwingend, »den Menschen voll und ganz, mit Leib und Seele, als Teil der Umwelt des Gesellschaftssystems anzusehen« (ebd., S. 30). Dem korrespondiert das für Marx und in der Kritischen Theorie zentrale Postulat, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber dem Willen und Bewusstsein der Individuen verselbstständigt haben.


Die systemtheoretische Gesellschaftstheorie grenzt sich gegen ungleichheitstheoretisch angelegte Gesellschaftstheorien mit der These eines »Primats funktionaler Differenzierung« ab: Es wird angenommen, dass funktionale Differenzierung, d. h. die Herausbildung von Teilsystemen (wie Wirtschaft, Recht, Politik, Erziehung, Wissenschaft, Medizin, Religion, Massenmedien und Kunst), die auf die Erbringung bestimmter Leistungen spezialisiert sind, die mit je eigenen Leitunterscheidungen operieren und füreinander Umwelten bilden, das entscheidende Merkmal moderner Gesellschaften darstellt. Gesellschaftliche Entwicklungen resultieren, so betrachtet, aus dem ungeplanten Zusammenwirken der Eigendynamiken der Teilsysteme, die nicht von einer Zentralinstanz gesteuert und auch nicht durch eine übergreifende Ordnung reguliert werden. Mit diesen Annahmen grenzt sich die Theorie funktionaler Differenzierung von Beschreibungen moderner Gesellschaften ab, die für das politische Systeme die Rolle einer übergeordneten Steuerungsinstanz reklamieren, aber auch von Varianten marxistischer Gesellschaftstheorien, die das Wirtschaftssystem als den in letzter Instanz einflussreichsten Teilbereich der Gesellschaft betrachten. Diese These der Gleichrangigkeit aller Funktionssysteme ist jedoch auch innerhalb der Systemtheorie nicht unumstritten (s. Giegel u. Schimank 2005).


Moderne Gesellschaften sind in der Perspektive der Systemtheorie zudem dadurch gekennzeichnet, dass sie niemanden prinzipiell von der Teilnahme aus den Leistungen der gesellschaftlichen Teilsysteme ausschließen, sie aber auch nicht garantieren. Vielmehr werden diese Leistungen zentral durch Organisationen erbracht, die den Individuen nach je eigenen Kriterien den Zugang den Leistungen eröffnen und verschließen. Dem Angewiesensein auf gesellschaftliche Teilhabe korrespondieren in der modernen Gesellschaft folglich Exklusionsrisiken. Sozialstaatlichkeit, Soziale Arbeit (Helfen) und psychotherapeutische (Psyche; Therapie) Interventionen können darauf bezogen als »Formen der Moderation von Inklusionsprozessen bzw. als Bearbeitung der Folgen von Exklusionsprozessen« analysiert werden (s. dazu Bommes u. Scherr 2000).


Pädagogische und therapeutische Praktiken sind als gesellschaftlich situierte zu analysieren, d. h. im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Bedingungen, Formen und Folgen. Professionelle Selbstreflexion sollte sich deshalb nicht allein auf praktische Handlungsprobleme und ethnische Maßstäbe beziehen, sondern die gesellschaftlichen Kontexte in den Blick nehmen – als Konstellationen, die bestimmte Formen der Hilfsbedürftigkeit hervorbringen, bestimmte Bedingungen für Interventionen etablieren und bestimmte Formen der Intervention und Nichtintervention als angemessen erscheinen lassen.


Verwendete Literatur


Adorno, Theodor W. u. Max Horkheimer (1956): Gesellschaft. In: Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Soziologische Exkurse. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 22–39.


Bommes, Michael u. Albert Scherr (2000): Soziologie der Sozialen Arbeit. Weinheim/München (Juventa).


Giegel, Hans-Joachim u. Uwe Schimank (Hrsg.) (2005): Beobachter der Moderne. Beiträge zu Niklas Luhmanns »Die Gesellschaft der Gesellschaft«. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen (Westdeutscher Verlag).


Luhmann, Niklas (1995): Die Form »Person«. In: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 6. Opladen (Westdeutscher Verlag), S. 142–154.


Luhmann, Niklas (1996): Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. Wien (Picus).


Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Weiterführende Literatur


Abels, Heinz (2003): Einführung in die Soziologie. Bd. 1: Der Blick auf die Gesellschaft. Wiesbaden (VS), 3. Aufl. 2007.


Scherr, Albert (Hrsg.) (2006): Soziologische Basics. Eine Einführung für Pädagogen und Pädagoginnen. Wiesbaden (VS).