Selbstorganisation

engl. self-organization, franz. auto-organisation f, von lat. organum bzw. griech. órganon = »Mittel (zur Herstellung von etwas), Werkzeug, Instrument«. Organisation ist einerseits die Existenzform relativ stabiler Strukturen und andererseits das Planen, Gestalten, Entstehen von neuen Strukturen. Selbstorganisation hat ebenfalls unterschiedliche Bedeutungen: Zeitmanagement und Selbstmanagement im Alltag, Organisation des Selbst, insbesondere während der ersten Lebensjahre (Entwicklungspsychologie, Bindungstheorie, Psychoanalyse), sowie in der Systemtheorie eine Form der Systementwicklung, bei der die gestaltenden und beschränkenden Einflüsse von den Elementen des Systems selbst ausgehen. Dieser Vorgang ist sowohl in Systemen der belebten als auch der unbelebten Natur zu finden.


Es existiert bisher keine einheitliche Theorie zur Selbstorganisation, sondern es gibt verschiedene Theorien mit jeweils unterschiedlichem Fokus und unterschiedlichen Begriffen. Gemeinsam ist ihnen ihre fachgebietübergreifende Anwendbarkeit. Sie ergänzen sich teils, teils kommt es zu Überschneidungen. Folgende Theorien spielen systemtheoretisch eine wichtige Rolle (in Klammern Begründer und Fachgebiet, auf dem die Theorie zuerst entwickelt wurde): autokatalytische Hyperzyklen (Manfred Eigen, Biophysikochemie); Autopoiesis (Humberto Maturana und Francisco Varela, Biologie); Chaostheorie (Edward Lorenz, Meteorologie); dissipative Strukturen (Ilya Prigogine, Physikochemie); dynamische Systeme (George David Birkhoff, Mathematik); elastische Ökosysteme (Crawford Stanley Holling, Ökologie); Fraktalgeometrie (Benoît Mandelbrot, Mathematik); Synergetik (Hermann Haken, Physik) und systemtheoretische Kybernetik (Heinz von Foerster, Biophysik). Es gibt also eine große Klasse von Modellen, die einen Wechsel des Gegenstandes zulassen, d. h., dass ein mathematisches Modell sich von dem beschriebenen realen Gegenstand löst und entweder durch Re-Definition seiner Freiheitsgrade oder durch geringe Erweiterungen der Modellformulierung zur Beschreibung anderer Gegenstände herangezogen wird (Marc-Thorsten Hütt u. Carsten Marr 2006). Im Sinne dieser modernen Systemtheorien


»kann man systemische Therapie als Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit selbstorganisierter Ordnungsübergänge in komplexen bio-psycho-sozialen Systemen unter professionellen Bedingungen definieren« (Schiepek 1999, S. 30; Therapie; Komplexität, Sozialsystem).


Aus den Systemtheorien zur Selbstorganisation lässt sich für die systemische Praxis ableiten, dass zur Anregung von Veränderung das vorhandene relativ stabile problematische Denk- bzw. Verhaltensmuster (»Attraktor«) mittels Intervention destabilisiert wird (Irritation, z. B. »Musterunterbrechung«, »paradoxe Intervention«, Infragestellen fester Überzeugungen) in der Hoffnung, dass sich aus dem instabilen Zustand (»Repellor«) ein neues stabiles, aber problemärmeres Muster (alternativer Attraktor) spontan bildet. Es ist aber auch möglich, als Ziel der Intervention direkt das neue, problemärmere stabile Muster zu wählen; z. B: »Tue mehr von dem, was funktioniert«; oder die Wunderfrage nach Steve deShazer stellen; oder »Landgewinnung«; oder »Cheerleading«:


»Indem wir (kleine) Veränderungen bejubeln, uns dafür begeistern und sie feiern, können wir Menschen dahin führen, größere Veränderungen anzugehen, mutiger zu werden, sich mehr zuzutrauen« (Schwing u. Fryszer 2010, S. 306 f.).


So wird zwar theoretisch auch ein instabiles Muster im Übergang vom alten zum neuen Muster (z. B. »Phasenübergang«) durchschritten, es wird jedoch nicht gezielt herbeigeführt und muss auch nicht zwangsläufig in Erscheinung treten. Darüber hinaus kann zwischen Interventionen, die direkt auf das Denk- bzw. Verhaltensmuster zielen (z. B. »Attraktor« oder »Ordnungsparameter«), und solchen, die auf das Umfeld zielen (z. B. »Bassin« oder »Kontrollparameter«), unterschieden werden.


Die Berücksichtigung der Autonomie von Systemen (Anliegen, Motivation, Sprache, Hilfe [Helfen] zur Selbsthilfe), der Eigendynamik von Systemen (Veränderungstempo, Sitzungsfolgen, Prozesssensibilität), der System-Umwelt-Bedingungen (Lebensbedingungen, Rahmenbedingungen), der Veränderung innerer Konstrukte und Wirklichkeitskonstruktionen (der aktiven Wirklichkeitskonstruktion) und des wechselseitigen Bezugs (der strukturellen Kopplung) zwischen individuellen (IndividuumProblemen und interpersoneller Kommunikation finden als theoretisch-konzeptionelle Grundpositionen der systemischen Therapie (Schiepek 1999) in der Autopoiesis-Theorie umfassend ihre Abbildung. Als »strukturelle« Kopplung wird es bezeichnet, wenn Systeme in der Weise miteinander in Interaktion treten, dass sie sich in ihrer strukturellen Determiniertheit ergänzen als Voraussetzung für die Übermittlung relevanter Informationen. Damit man als Therapeut bzw. Berater eine Veränderung im Klientensystem erreicht, ist daher die Exploration der Klientensystemstruktur sinnvoll mit dem Ziel, die Interventionen so zu gestalten, dass es zur strukturellen Kopplung kommt (»das Passen entwickeln« nach Steve de Shazer 1989, S. 107 ff.). Dies kann geschehen durch z. B. GenogrammFamilienbrett (Familie), Skulpturen, Aufstellung oder durch Fragen zur Differenzierung zwischen »Besucher«, »Klagendem« und »Kunden« gemäß Steve de Shazer (1989, S. 102 ff.).


Auch psychiatrische Diagnosen können Informationen zur Klientenstruktur enthalten (z. B. kommen viele Menschen mit ADHS gut mit Schnelligkeit und Abwechslung zurecht, Menschen mit Autismus dagegen oft besser mit Langsamkeit und Gleichförmigkeit) und damit für die Gestaltung der Interventionen eine wichtige Rolle spielen (Spitczok von Brisinski 1999).


»Fraktale« (von lat. frangere = »brechen«) sind Muster, die einen hohen Grad von Selbstreferenz und Selbstähnlichkeit aufweisen. Trotz unterschiedlicher Anfangssituationen können u. U. dieselben Muster entstehen, wenn viele Wiederholungen selbstbezüglich durchgeführt werden. Bei Krankheiten oder Störungen kann dies dazu führen, dass vorübergehende schädliche Einflüsse auf Dauer keinen schädlichen Einfluss haben (Selbstheilung) oder vorübergehend positive Einflüsse auf Dauer keinen positiven Einfluss haben (Rigidität), weil sich immer wieder dieselben Muster bilden: So kann es z. B. sein, dass trotz Aufdeckung eines sexuellen (Sexualität) Missbrauchs und vorübergehender Distanzierung vom Täter (Opfer) später wieder eine Annäherung stattfindet. In Familien und Organisationen finden sich Strukturanalogien oft auf verschiedenen Ebenen, sodass das Fraktalmodell z. B. sinnvoll sein kann bezüglich der Mehrgenerationenperspektive (Stange, Topp u. Spitczok von Brisinski 2009).


Verwendete Literatur


de Shazer, Steve (1989): Der Dreh. Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie. Heidelberg (Carl Auer-Systeme), 11. Aufl. 2010.


Hütt, Marc-Thorsten u. Carsten Marr (2006): Selbstorganisation als Metatheorie. In: Miloš Vec, Marc-Thorsten Hütt u. Alexandra M. Freund (Hrsg.): Selbstorganisation. Ein Denksystem für Natur und Gesellschaft. Köln (Böhlau), S. 106–126.


Schiepek, Günter (1999): Die Grundlagen der Systemischen Therapie. Theorie – Praxis – Forschung. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).


Schwing, Rainer u. Andreas Fryszer (2010): Systemisches Handwerk. Werkzeug für die Praxis. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 4. Aufl.


Spitczok von Brisinski, Ingo (1999): Zur Nützlichkeit psychiatrischer Klassifikationen in der systemischen Therapie – DSM, ICD und MAS als Hypothesenkataloge dynamischer Systemkonstellationen. Zeitschrift für systemische Therapie 17: 43–51.


Stange, Susanne, Friedhelm Topp u. Ingo Spitczok von Brisinski (2009): Fleisch, Fraktale und Vertrauen – Mehrgenerationentherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Systhema 23 (1): 40–52.


Weiterführende Literatur


Kriz, Jürgen (1999): Systemtheorie für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner. Wien (Facultas).


Manteufel, Andreas u. Günter Schiepek (1998): Systeme spielen: Selbstorganisation und Kompetenzentwicklung in sozialen Systemen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).


Schiepek, Günter u. Wolfgang Tschacher (Hrsg.) (1997): Selbstorganisation in Psychologie und Psychiatrie. Braunschweig/Wiesbaden (Vieweg).


Simon, Fritz B. (2012): Meine Psychose, mein Fahrrad und ich. Zur Selbstorganisation der Verrücktheit. Heidelberg (Carl-Auer), 13. Aufl.


Spitczok von Brisinski, Ingo (2006): Gefühle und Selbstorganisation in Beratung und Therapie von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien – Zusammenspiel von psychosozialen und neurobiologischen Aspekten. In: Bodo Reuser, Roman Nitsch u. Andreas Hundsalz (Hrsg.): Die Macht der Gefühle – Affekte und Emotionen im Prozess von Erziehungsberatung und Therapie. Weinheim/München (Juventa), S. 99–119.


Vec, Miloš, Marc-Thorsten Hütt u. Alexandra M. Freund (Hrsg.) (2006): Selbstorganisation. Ein Denksystem für Natur und Gesellschaft. Köln (Böhlau).