Wenn Übersichtlichkeit Lernen unterwandert

 


Besonders uns Deutschen liegt der Wille zu strukturieren, zu ordnen, es übersichtlich und einfach zu machen, im kulturellen Blut. Dabei kann genau das Lernen verhindern.


Ganz besonders, wenn es darum geht, sich zu höherem Komplexitätsmanagement herauszufordern, wird es wichtig, dass Lernende vor Unübersichtlichkeiten gestoßen werden, vor Unbestimmte, Unklarheit, Unschärfe - vor Herausforderungen.


Höher dimensionieren zu können, ist immer zunächst anstrengend, und diese Anstrengungen versuchen wir gern uns und jenen abzunehmen, denen wir unser Material vorstellen möchten, um so schnell wie möglich Aha-Effekte zu erzeugen und das Gefühl sich gut im Neuen bewegen zu können.


Dabei wird übersehen, dass es genau die Eigenleistung ist, die aus den Fragen im Kopf, was ich denn da eigentlich überhaupt sehe/erfahre/wie ich die Elemente in Zusammenhang bringen könnte, die relevant dafür ist, neue Verbindungen aufzubauen und neu zu dimensionieren.


 



 


Wird mir diese Leistung abgenommen, indem mir eine Ordnungsstruktur vorgegeben wird, kann mir passieren, dass ich gar nicht merke, dass ich nicht be-griffen habe, was da vor mir liegt, sondern denke das ist ganz leicht und ich finde mich darin bereits bestens zurecht.


Auch der Präsentierende kann darüber nicht sonderlich gut überprüfen, wie seine Präsentation angekommen ist. Feedback auf Gefallensebene hilft nicht immer wirklich weiter. Erst beim Restrukturieren des Begriffenen kann ich erkennen, was ich begriffen habe. Auf Herausfordern und Überprüfen zu verzichten, ist keine akzeptable Problemlösung, wenn es tatsächlich ums Lernen gehen soll.


Zu be-greifen bedeutet, die Angelegenheit von mehreren Seiten her anpacken/anfassen/durchdenken/tun zu können. Es bedeutet, kinästhetisch einzukreisen. Und um das zu erlernen, kann uns Unübersichtliches, Unstrukturiertes, Chaotisches, Herausforderndes oft besser dienlich werden als dass uns jemand die Denkleistung bereits abgenommen hat.


Insbesondere Texte, Bilder, Formate, die aus der Ecke von jenen kommen, die bereits höher dimensionieren können, wirken auf uns häufig chaotisch und anstrengend. Das Bedürfnis, nach einfacherer Darstellung zu rufen, ist groß, und es kommt daher, dass wir
a) glauben, dass das stets die bessere Möglichkeit ist und uns
b) das Bedürfnis selbst bereits deshalb sinnvoll erscheint, weil wir nicht wissen, wie wir mit der Anstrengung umgehen sollen, vor die uns Text, Bild usw. stellen.


Doch der scheinbar gleiche Inhalt des einen Bilds erscheint plötzlich ganz anders, wenn er uns unvorformatierter geliefert wird, denn das eher UnvorFORMatierte zwingt uns dazu Fragen zu stellen, was wir da eigentlich sehen und wie wir damit umgehen können.


In der Schule erworbenes Unbehagen allem UnvorFORMatiertem gegenüber, das uns fürchten lässt, schlecht dazustehen, kann dazu führen, dass wir mit der Forderung "Es einfach machen!" schlussendlich Lernen genau da unterwandern, wo wir uns dazu herausfordern könnten, höher zu dimensionieren.


 


 



 


Einige Leute kriegen von Schostakowitsch Kopfschmerzen, andere von Marschmusik. Einigen fügt naive Malerei geistige Qualen zu, anderen Jackson Pollock ...


In heutiger Lerntheorie wird viel darüber gesprochen, wie wir uns leicht und unproblematisch Material aneignen können, und das ist auch gut so. Weniger diskutiert wird allerdings die Bedeutung von Verwirrung, Unruhe, Unbestimmtheit und des eigenen Gefühls von Unbehagen, wenn es darum geht, höher zu dimensionieren.


Für Kinder ist das noch kein Problem. Sie lieben die Herausforderung bis an die Grenze sogar lebensgefährlichen Leichtsinns, wenn sie am Außengeländer der Brücke entlang hangeln und Mutproben in hohen Gerüstbauten versuchen. Kinder verfügen über eine archetypische Neugier, die ermöglicht, dass sie wachsen können. Allerdings kommt mit Lernkonditionierung, die Lust an Herausforderungen für manche für immer zerstört, eben auch das Bedürfnis von Ordnung im zu Lernenden, das so innovationsfeindlich werden kann, dass keine krisenfunktionalen Programme mehr geschrieben werden können, weil die nun einmal auf Herausforderungen antworten.


Ich erlebe aus meiner Forschung heraus, in meiner Seminarpraxis und auch in Konferenzen immer wieder, dass das Bedürfnis geäußert wird, es noch übersichtlicher und strukturierter, noch einfacher zu machen. Wir haben zum Beispiel gelernt, dass es als unhöflich gilt einander zu unterbrechen, was bis dahin geht, dass Gesprächen jede Leichtigkeit, und vor allem jedes kreative Chaos abstrukturiert wird.


Guter Jazz lebt davon, dass sich jeder einbringt und das mit seiner eigenen Stimme. Und auch dort kann die Neigung zu Einfachheit, Egalität, Struktur (und damit eingängiger Melodie, bzw. Gleichklang) Genialität und Dimensionierung abtöten, was Ornette Coleman dazu gebracht hat, sich Gedanken über den "Shape of Jazz to come" zu machen. Coleman ging in seinen Bands so weit, dass er den Musikerkollegen riet, seine Ideen aufzugreifen, aber sie gleichermaßen zu ignorieren, wenn sie etwas Eigenes einbringen wollten. Erst hier, an der Grenze zu emergenter sozialer Empathie, wo die schillernde Intensität des Einzelnen im Zusammenspiel entsprechend emergentes Miteinander-Bewegen, emergente Qualität von Kunst, Musik, Schaffen ermöglicht, kann jene Innovation emporsteigen, die uns durch die großen Metakrisen transportiert. 


 



 


"Es einfach zu machen!" kann mehr Ressourcen verschlingen, wenn es dem Material nicht gerecht wird. Es stets vorzustrukturieren, kann dazu führen, dass Dimensionierungsfähigkeit absäuft, weil einfach nicht genügend Fragezeichen im Kopf herumschwirren können, um Eigenes zu denken, Eigenes herauszufordern, eigene Verbindungen herzustellen und vor allem an der Grenze der geistigen Anstrengung Neues zu FORMen.


Die Idee der Dimensionierung ist die, dass das Urteil der Analyse in der Schwebe bleibt, sich verändert, aber in der Veränderung managebar ist, wohingegen klassische Ordnungsstrukturen versuchen, die Urteile einzufrieren, so dass sie als nicht mehr revidierbar erscheinen.


Gerade im Business-Lernen stellt sich augenblicklich so ziemlich alles gegen diese Idee. Wir wünschen es eingängig, ordentlich, vorstrukturiert, bis wir nicht mehr merken, dass dieser Wunsch nach Kontrolle des Materials das Material selbst für uns auf eine Weise vorverformt, dass es sich nicht mehr entfalten kann, sondern dass alles Grenzkomplexe erstickt, alles Neue dem angepasst wird, was wir schon kennen. Alles, was sich nicht links/rechts/oben/unten sortieren lässt, was wir nicht sofort mit hübschen Bildchen und ordentlichen Tabellen einsortiert bekommen, wird mit "es muss doch einfacher gehen" ins Kröpfchen geworfen. Aber Leben funktioniert so nicht, die Metakrisen funktionieren so nicht, ja wir selbst funktionieren so nicht. Und ganz sicher funktioniert so Organisation in Metakrisen nicht!


Wir sind hoch komplexe, brillante Geschöpfe, geboren mit der Fähigkeit, entsprechend hohe Komplexitäten zu managen, und nur dort, an der Grenze des Fassbaren, des Unbestimmten, des Unsortierten, Ungnädigen, Konfliktreichen kommen wir eben an unsere eigene Grenze.


Vor allem im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung ist das eine wichtige Erkenntnis, denn genau da besteht für Viele der Wunsch alles zu fassen, einzusortieren, zuende durchdacht, bewältigt zu haben. Doch innere Reife kommt nicht mit dem ordentlichen Sortierkasten, sondern gerade mit der Fähigkeit, sich interessiert und durchaus auch hoch emotional in Unbestimmtheit zu bewegen, sich Intensität zu erlauben, Chaos, Unfassbarkeit, sich selbst noch überraschen zu können und eben nicht immer sicher und gut aufgehoben fühlen zu müssen.


Es ist der Mut zur Herausforderung, der Lernende ausmacht, nicht der Wille zu Strukturkontrolle.


Wenn wir den Ball versuchen einfacher zu machen, funktioniert der Fußball nicht mehr. In seiner Rundheit hat der Ball unendlich viele Ecken. Lassen wir die Luft raus, machen wir ihn einfacher, denn dann hat er weniger Ecken - nur kann er dann auch nicht mehr in Richtungen springen, die wir nicht erwartet haben. Fußball begeistert Milliarden, weil das Spiel komplex ist, und das beginnt bereits beim Ball.



Aus diesem Grund fordere ich meine Seminarteilnehmer dazu heraus nicht nur mich, sondern auch einander zu unterbrechen in der Hoffnung, dass sie dabei lernen sich auch selbst unterbrechen zu können. Die Furcht, dass introvertierte Geister da nicht mithalten können, ist natürlich berechtigt, und ihr kann rücksichtsvoll begegnet werden, aber ich setze lieber die entsprechende geistige Reife voraus sich melden zu können, wenn es zu unbehaglich wird, als mit zu viel Ordnungsliebe genau das abzutöten, was ich an meiner Arbeit so liebe: Dass wir einander überraschen, überrufen, überfordern, bis an diese Grenze, wo wir in irres Lachen ausbrechen können, wo sich der Lerneffekt angestrengter Denkmurmeln einstellt, denen es gerade eben, hier und jetzt, gelungen ist, neue Dimensionen anzulegen.


Dasselbe mit Folien: Lasst uns Unübersichtlichkeit erproben und herausfordern, wo die Art von Verwirrung entsteht, die Einige sogar ärgerlich machen kann, weil sie an dieser Grenze verlernt haben, das Ärgerliche zu nutzen, um etwas daraus zu machen.


Es gibt eine systemische und soziologische Tatsache, die Harmoniesüchtige nur schwer nachvollziehen können:


Alle Innovation entsteht aus Fragmentierung und Zersplitterung.


Und Leute, die wirklich Neues schaffen, lieben es, den Konflikten zu folgen, sich an und von ihnen herausfordern zu lassen und dort hartnäckig dranzubleiben, wo es weh tut. Es gibt keinen guten Musiker, der nicht gleichzeitig mit Schmerzen und Niedergeschlagenheit zu kämpfen hat, keinen herausragenden Forscher, der sich nicht bis an Frustrationsgrenzen treiben kann, wo andere längst aufgegeben hätten.


Und es gibt keine Komplexitätsmanagement Stufe 2++ für diejenigen, die sich weigern, sich dem Unübersichtlichen und dem damit verbundenen Unbehagen auszuliefern. Es muss sein!


Wir können die Stimmung geckig machen, damit die Lust an Intensität neu entfacht werden kann, aber wir kommen nicht drum herum, dass diese Lust eben Intensitäten benötigt, denen wir sonst auszuweichen versuchen.


Um zu K3 zu kommen, ist es notwendig! K2 zu durchleben. Das kann zwar für jeden auf andere Art und Weise geschehen, aber dieser Notwendigkeit kann sich niemand entziehen.


Ich sehe immer wieder, wie Menschen unruhig auf ihren Stühlen herumzurutschen beginnen, sobald jemand, für dessen Verhalten ich FORMen aus Komplexitätsmanagementstufe 2 oder 4 zur Beschreibung benötige, anfängt zu reden oder etwas darzustellen. Zwei Minuten mit ihnen können manche so anstrengend empfinden, dass sie das Gefühl haben, diese Leute hätten extreme Redezeit gehabt.


Warum? Aus demselben Grund, warum Kinder sich noch langweilen oder vor Begeisterung ausflippen können: Weil wir Zeit mit Inhalt füllen, und je mehr Inhalt gepresst auf uns einströmt, desto intensiver empfinden wir den Moment. Und genau das ist der Augenblick, in dem wir dazu herausgefordert werden, neue Dimensionen anzulegen, unsere Erwartungen an das, was wir verstehen und wie man mit uns zu reden hat, zu sprengen und an dieser Stelle den großen Fragezeichen, die uns zu bedrängen scheinen, und für die wir endlich mal keine Worte haben, Raum zu geben.


Doch was tun wir statt dessen meistens?


Wir sortieren diese Menschen und ihr Material aus. Die Geschichte unterdrückter Innovation ist die Geschichte von Menschen, die keine Lust dazu hatten sich mit etwas zu befassen, was ihnen nicht intuitiv zugänglich ist - mit anderen Worten: Was sie nicht schon kannten.


Ich habe Freunde, die halten Andere für verrückt, weil sie anstrengender sind. Als ich aber angefangen habe, ihren kreativen Sprüngen und intensiven Auslassungen zu folgen, hat sich mir ein völlig neues Universum offenbart, und ich habe langsam aber sicher gelernt, Unübersichtlichkeiten und Intensitäten zu lieben, weil ich an ihnen oft die besten neuen Ideen formen konnte.


Und aus dieser Erfahrung heraus möchte ich dazu motivieren, die eigene innere Kontrollliebe auch mal fahren zu lassen, sich kognitiven und vor allem emotionalen Herausforderungen zu stellen und Konflikte aller nicht gewalttätiger Art zu erlauben. Es liegt Anmaßung darin zu glauben, Konflikte müssten grundsätzlich beseitigt werden, wie Anmaßung darin liegt, Anderen vorzuschreiben, in welchem Ton sie zu reden haben.


Vor allem wir Frauen dürfen an dieser Stelle lernen, nicht alles und vor allem nicht zwischen allem vermitteln zu müssen, sondern statt dessen, beziehungsweise oben drauf zu begreifen, dass Konfliktreiches, Unruhiges, Unbeständiges, Unübersichtliches, Unbestimmtes, Unklares, Unschärfe zum Leben dazu gehören und dass es an uns liegt, ob wir versuchen das zu glätten, oder ob wir lernen, die chaotische Welle zu surfen. Wir können scheitern und von ihr verschlungen werden, aber, wie uns die Klimakrise gerade zeigt, wir werden ganz sicher scheitern, wenn wir nicht endlich anfangen zu begreifen, dass wir nichtlineare Gleichungen und Konflikte mit ins Kalkül nehmen müssen und deshalb als Spezies dazu herausgefordert sind, uns diesem inneren Chaos zu stellen, das uns tatsächlich ausmacht.


Identität ist paradox. Wir sind keine Seienden, sondern in kontinuierlicher Innovation begriffen. Wir sind höher dimensioniert, und dem dürfen wir auch gerecht werden.