Frage

Mir ist die Frage einer Leserin dieses Blogs (Gitta Peyn) zugesandt worden, die ich hier gern publiziere, da sie von allgemeinem Interesse sein dürfte:


"Ich würde gern einmal eine Frage in die Runde der Systemiker stellen, die aus der Praxis kommt:


Vor einigen Jahren haben ein paar Freunde, Dr. Irmela Nagel, Rechtsanwältin, und ich einen Verein gegründet, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschen in Not zu helfen: Leistungsempfängern vor allem, die unter Sanktionsdruck stehen, die juristische, begleitende Hilfe benötigen oder einfach Carepakete aus unserem Netzwerk heraus (beispielsweise für Mütter, denen die Stromnachzahlung gerade den Hals zu brechen droht).


Mich seit vielen Jahren mit Konstruktivismus und Systemtheorie befassend, sehe ich die entspannende und geistig erweiternde Wirkung dieser Modelle auf mein Leben und meine Beziehung zu meinen Mitmenschen und Freunden jeden Tag. Ich sehe aber auch, dass sie für viele Menschen überhaupt nicht funktionieren, ja sogar Abwehr erzeugen. In persönlichen Gesprächen stellen wir immer wieder fest, dass die zunehmende Radikalisierung für die Betroffenen eine gewisse Zwangsläufigkeit hat. Das Leben wird für sie härter, Hartz IV mit seinem "Fördern und Fordern" erzeugt einen Druck, der viel weniger etwas mit der oft grenzwertigen Armut zu tun hat, als damit, dass sich die Menschen nicht nur bevormundet fühlen, sondern infantilisiert, immer weniger wert, nicht mehr als vollwertige Menschen wahrgenommen. Diese Angst wirkt auch auf diejenigen, die in bedrohten Jobs arbeiten.


Es geht um Würde. Ich kenne Menschen, die trauen sich nicht einmal mehr ihren Briefkasten zu öffnen - und das über Monate hinweg.


In diesem Kampf um die eigene Würde (den viele verlieren) wird die Polarisierung zu einem Rettungsanker. Wir erleben die Verzweiflung, mit der die Menschen an ihrer Wirklichkeit festhalten, deutlich. In der schwer zu greifenden Weite der Systemtheorie aber scheint man selbst zu verschwinden, zu versinken in einer Komplexität, die nur noch wenig mit dem zu tun zu hat, was man doch täglich erlebt. Sie scheint die Betroffenheit selbst abzuwerten. Das zumindest ist die Reaktion, die ich persönlich bekomme, wenn ich mit Freunden, die in Schwierigkeiten stecken, über dieses Thema spreche.


Im Verein folgen wir der Regel: Respektiere die Lebensumstände und Ideologien, biete nur Hilfe an, mehr nicht. Was wir erleben ist, dass die Menschen sich insgesamt im Stich gelassen fühlen und das nicht nur von den Politikern, sondern auch von den Wissenschaftlern. Die Systemtheorie hat wundervolle praktische Ergebnisse im Bereich der Therapie hervorgebracht, doch unsere Frage ist diese: Kann sie gerade hier nicht noch mehr leisten?


Für diejenigen, die von der Welt betroffen sind, ist ihre Wahrnehmung ebenso ihre Identität wie ihre Meinung. Der Gedanke an eine Herrschaftselite zum Beispiel, der ist für viele real, das gilt auch für den Gedanken, dass Armut politisch gewollt ist. Konfrontiert mit der Systemtheorie, haben einige das Gefühl, so mein Eindruck, dass man ihre Selbstwahrnehmung in Frage stellt und ihnen damit die letzte Bastion vor etwas raubt, das den Verlust eben dieser Identität bedeutet. Die Radikalisierung ist eine Möglichkeit der Selbststabilisierung.


Sicher besteht kein therapeutischer Anspruch der Theorie an sich, das wäre vermutlich auch verkehrt, und doch: Auf dem Hintergrund der aktuellen Probleme - gibt es nicht mehr, das getan werden kann auch von Seiten der theoretischen Wissenschaft, damit die Menschen sich leichter und mit mehr Freude im komplexen Spiel in der Gesellschaft bewegen können? Müsste nicht gerade aus Richtung der Systemtheorie der Impuls zu mehr Verständnis kommen?


Vielen Dank an Prof. Fritz B. Simon für die Veröffentlichung meiner Frage(n) und an alle Beteiligten im voraus für Antworten und Kommentare. Ich würde das hier nach Abschluss der Diskussion gern im Kreis unseres Vereins diskutieren und auch mit anderen Vereinen teilen. Möglicherweise lassen sich hierüber ja schon ein paar Anregungen finden, konstruktiv, aber nicht regulierend, Interessierten zu helfen, Zugang zu offene(re)n Sichtweisen zu finden."