Systemische Gruppendynamik
Die größte Chance, einen Atomkrieg zu verpassen, hat man wahrscheinlich als Teilnehmer eines Seminars „Systemische Gruppendynamik“. Solch eine Trainings-Woche habe ich gerade wieder einmal erlebt – und es war in einer Weise spannend, faszinierend und lehrreich, wie es meiner Erfahrung nach kein anderes Setting auch nur annähernd bieten kann. Drei parallele Gruppen, jeweils 11 oder 12 Personen, drei Trainer…
Ich persönlich habe keinerlei Zweifel, dass es die intelligenteste und ökonomischste (gemessen in Erkenntnis/Minute) Form der Sozialforschung und der Lehre zum Thema „soziale Systeme“ ist, das derzeit verfügbar ist. Mein Kollege Rudi Wimmer und ich haben es an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Uni Witten/Herdecke von fast 20 Jahren eingeführt, und es gehört bis heute zu von den Studenten bestgerateten Veranstaltungen. Aber auch die Gruppen (wie vergangene Woche), an der vor allem erfahrene Berater und Führungskräfte teilnehmen, bekommen positive Bewertungen, wie man sie bei einem traditionellen Seminar eigentlich nie erhält. Denn in diesem Setting wird das Ideal, dass Form und Inhalt zueinander passen (um es bescheiden zu formulieren) in fast perfekter Weise realisiert: die Dynamik der Gruppe ist das Thema, und dieses Thema kann anhand der Dynamik der Gruppe studiert und reflektiert werden.
Man kann als Teilnehmer minutiös die Selbstorganisation eines sozialen Systems (hier: einer Gruppe) studieren: die Entwicklung ihrer Strukturen, die Bildung ihrer Grenze, das Ringen um ihr Ziel und ihren Zweck, die Auseinandersetzung über Rollen und Funktionen, um Macht, Einfluss und persönliche Anerkennung, die Entstehung von Konflikten und/oder ihre Vermeidung, Differenzierungs- und Integrationsprozesse, die Versuche Asymmetrien in Beziehungen zu etablieren und die mehr oder weniger unvermeidlich folgenden Resymmetrisierungen … Und bei alledem ist man nicht distanzierter außenstehender Beobachter, sondern beides: Beobachter und Akteur. Denn man hat, ob man will oder nicht, die Verantwortung für den Prozess, obwohl man ihn nicht unter Kontrolle hat.
Außerdem wird erkenn- und erlebbar, welche Paradoxien entstehen, wenn man Gruppen und Teams in Organisationen zu etablieren versucht, die nach einer ganz anderen Logik funktionieren.
Für die Teilnehmer ergibt sich die Möglichkeit, die – systemtheoretisch gesprochen – Kopplung von psychischen und sozialen Systemen zu studieren, indem man beobachtet, wie das eigene aktuelle Erleben (als Umwelt der aktuellen Interaktion) an spezielle soziale Dynamiken gebunden ist; man erlebt, dass zwischen Absicht und Wirkung des eigenen Handelns ein Unterschied besteht; dass nichts, was nicht in die Kommunikation kommt, eine soziale Wirkung erzielt; dass die eigene „Persönlichkeit“ – wie sie von den anderen erlebt wird, vom jeweiligen Kontext bestimmt wird; dass man die stelbst-versteckten Ostereier findet usw. usw.
Das alles gelingt allerdings nur, wenn der Fokus der Aufmerksamkeit auf die Dynamik des sozialen Systems gerichtet ist, d.h. wenn der Trainer eine systemtheoretische Perspektive anlegt.
Wenn man immer wieder mal kritische Stimmen zu gruppendynamischen Trainings hört (auch von eigentlich ganz intelligenten Leuten), so dürfte das daran liegen, dass diese Trainings, die wahrscheinlich den Erfahrungshintergrund dieser Kritiker darstellen, mit einer normativen psychologischen oder sozialpsychologischen Fokussierung durchgeführt worden sein dürften. Wenn das geschieht, besteht die Gefahr, dass solch ein „gruppendynamisches“ Training zu einer Selbsterfahrungs- oder Therapiegruppe verkommt. In der systemischen Gruppendynamik, deren äußeres Setting ähnlich ist, wird im Gegensatz dazu nicht der Fokus auf die Psyche der Teilnehmer gelegt (die ist ja auch gar nicht direkt zu beobachten), sondern auf die hier-und-jetzt ablaufende Interaktion in der Gruppe und zwischen den Gruppen bzw. deren Folgen für die Strukturierung und Kompetenz der jeweiligen Gruppe/des Teams.
Natürlich lässt sich dabei auch die Selbsterfahrung der Teilnehmer nicht verhindern (genauso wenig wie sonst im Alltag), aber wenn es einem Teilnehmer oder einer Teilnehmerin wichtig ist, wird er oder sie es sicher schaffen, ohne neue Erkenntnisse über sich selbst durch solch eine Woche zu kommen. Auch das ist legitim. Um aber ohne Einsichten in soziale Dynamiken durch die Woche zu kommen, muss er oder sie sich schon sehr anstrengen. Es mag sehr talentierte Menschen geben, die auch ohne solch ein Training sinnvoll und längerfristig erfolgreich als Berater oder Führungskräfte mit Teams – vor allem mit Teams in Organisationen – umgehen können. Aber, ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass man verantwortlich und kompetent heutzutage, wo die „Agilität“ von Teams „proklamiert“ wird, derartige Jobs ohne das Durchlaufen von (möglichst vielen) systemischen Gruppendynamiktrainings erfolgreich erledigen kann.
Ich habe jedenfalls – sei es als Trainer oder Teilnehmer – in keinem Setting mehr über die Systemtheorie von sozialen Systemen sowie die Kopplung psychischer und sozialer Systeme gelernt. Auch diesmal wieder…