Autorengespräch mit Silvia Zanotta über „Wieder ganz werden“

In Kürze erscheint das neue Buch von Silvia Zanotta „Wieder ganz werden – Traumaheilung mit Ego-State-Therapie und Körperwissen". Darin bezeichnet sie ein Trauma als eine „unvollendete Verteidigungsreaktion‟. Wenn im Film eine Bewegung abrupt in ein Standbild übergeht, spricht man von einem Freeze Frame. Wir wollten wissen, ob die Autorin diese Assoziation im Trauma-Kontext für hilfreich hält.

Silvia Zanotta: Betrachtet man eine traumatische Erfahrung aus der Perspektive des menschlichen Organismus, so wirken multiple Stimuli so schnell und komplex auf den Körper ein, dass dieser nicht adäquat darauf reagieren kann, zum Beispiel bei einem Unfall dem Aufprall auszuweichen oder bei einem Sturz sich aufzufangen. Ein Kleinkind kann aufgrund von hohem Fieber einen solch dramatischen Kontrollverlust erleben, dass es Todesängste aussteht. Der Körper kann also die ihm zur Verfügung stehenden Verteidigungsstrategien – wie Fliehen, Ausweichen oder Kämpfen, Sich-Wehren, Sich-Schützen – nicht ausführen. Die enorme Energie, die aber blitzschnell für diese aktiven Verteidigungsreaktionen bereit gestellt worden ist, wird jetzt für die letztmögliche Defensivreaktion mobilisiert, es kommt zum Freeze, zum Erstarren, d.h. zu Konstriktionen, Verkrampfungen und/oder zu einem Taub-Werden gegenüber Empfindungen und Gefühlen. So schützt sich unser Organismus vor Angst und Schmerz. Dieses Einfrieren kann durchaus mit dem von Ihnen erwähnten Freeze Frame verglichen werden. Wichtig dabei ist jedoch, dass für dieses Erstarren wiederum enorm viel Energie aufgebracht werden muss. Gelingt es im therapeutischen Setting, diese „feststeckende“ Energie wieder zum Fließen zu bringen und in aktive Verteidigung und Selbstbehauptung zu transformieren, so dass der Organismus das nachholen kann, was in der traumatischen Situation nicht möglich war, können Verkrampfungen gelöst und die Verbindung zum Körper wieder hergestellt werden. 

Frage: Traumatisierte Klienten haben besondere Schwierigkeiten mit der Beziehungsgestaltung. Das gilt umso mehr für störungsanfällige Therapeut-Klient-Beziehungen, in die traumatisierte Klienten ihr erprobtes Schutzverhalten, zum Beispiel Misstrauen oder Rückzugsreaktionen, mitbringen. Wie muss ein therapeutisches Setting aussehen, damit ein traumatisierter Klient Vertrauen fassen kann? 

Silvia Zanotta: Es ist wichtig, dass der traumatisierte Klient den therapeutischen Raum als sicher erlebt und in die therapeutische Beziehung zunehmend Vertrauen fassen kann. Klare Abmachungen, ein strukturiertes Setting, Transparenz und definierte Grenzen bilden den sicherheitsspendenden Rahmen dazu. Der Therapeut muss vor allem bei komplex oder frühkindlich traumatisierten Klienten am Anfang der Therapie mitunter um diese Sicherheit ringen, indem er Hoffnung auf Veränderung und Erleichterung vermittelt, den Klienten in kleinen Schritten durch Ko-Regulation zur autonomen Selbstregulation heranführt, durch Beibringen von Selbstberuhigungstechniken, durch Unterstützung im Herstellen äußerer Sicherheit und durch in die Gegenwart-Holen der im Trauma verharrenden Ego-States. Dabei ist es wichtig, dass der Klient stets die Kontrolle über den Therapieverlauf behält (Psychodukation über Trauma und die damit zusammenhängenden psychophysiologischen Prozesse, im Rhythmus des Klienten Bleiben, d.h. ihn behutsam an die nächsten Schritte heranführen, aber selber bestimmen lassen, wann er so weit ist etc.). Die Ego-State-Therapie bietet zudem die Möglichkeit, destruktiv agierende Anteile, welche die therapeutische Beziehung oder den Prozess stören, als wichtige Energien zu nutzen, „ins Boot zu holen“, so dass sie oft zu wichtigen Ressourcen werden. Das setzt voraus, dass der Therapeut eigene blockierende oder vermeidende Ego-States aus der Selbsterfahrung kennt und über Trauma und die damit zusammenhängenden psychischen und physischen Prozesse gut Bescheid weiss, so dass er z.B. eine abweisende Haltung des Klienten richtig interpretieren und adäquat darauf reagieren kann. 

Frage: Kommen wir kurz zurück zum Freeze Frame. Im Kino muss der Projektor in Bewegung gesetzt werden, kinetische Energie muss fließen, damit der Film weiterlaufen kann. „In Bewegung setzen“ ist auch ein zentrales Anliegen Ihres therapeutischen Ansatzes und letztlich wichtiger, als die Traumainhalte in Erinnerung zu bringen. Warum betrachten Sie Bewegung als Schüssel zur Überwindung von Traumata? 

Silvia Zanotta: Wie schon weiter oben erwähnt, kann die enorme Energie, die es braucht, um diesen Freeze-Zustand aufrecht zu erhalten, durch (auch imaginierte) Bewegung in aktive Selbstbehauptung und damit Kraft und Stärke transformiert werden. Aus Erstarrung und Ohnmacht hin zu Bewegung, Stärke und Kontrolle, das ist eine korrigierende Trauma heilende, auch körperliche Erfahrung.

Frage: Zu den Überlebensstrategien traumatisierter Menschen gehört die Fragmentierung und Dissoziation unerträglicher, als lebensbedrohlich empfundener Erfahrungen. Sie hinterlassen - so Ihr Ansatz - auf der somatischen Ebene tiefe und unauslöschliche Spuren. Was leistet die Ego-State-Methode für das Aufspüren und die (Re-)Integration solcher Fragmente? Welche Rolle spielen dabei Begriffe wie Pendeln und Entkopplung?


Silvia Zanotta: Zum Glück ist unser Gehirn plastisch und viele dieser Spuren reversibel. Die Ego-State-Therapie ermöglicht die Befreiung und Ermächtigung der in der Vergangenheit und in der Traumasituation verharrenden States, indem diese eine korrigierende, heilende Erfahrung machen und in die Gegenwart geholt werden, so dass sie sich beruhigen und wieder in die Gesamtpersönlichkeit integriert werden können. Wir können die Vergangenheit und Geschehenes nicht verändern, jedoch das innere Befinden. Klienten sprechen dann von „Erleichterung“ von „sich wieder ganz fühlen“. Die Begriffe „Pendeln“ und „Entkoppelung“ stammen aus der Somatic Experiencing©Traumatherapie. Beim Pendeln geht es um die Aktivierung der Selbstheilungskräfte auf somatischer Ebene. Der Klient erlebt sich als selbstwirksam, weil er vom Traumavortex ins Ressourcenerleben wechseln kann. Das Pendeln kann nicht nur auf der somatischen, sondern auch auf der kognitiven, emotionalen, gestalterischen Ebene, oder z.B. durch Veränderung der Haltung stattfinden und erfahren werden. Bei der „Entkoppelung“ werden die schlimmen mit dem Trauma verbundenen Gefühle - wie z.B. Panik - von der Verteidigungsreaktion getrennt, so dass diese ausgeführt werden kann und als Kraft und Stärke erlebbar wird, ohne dass der Klient dabei überflutet oder retraumatisiert wird.

Frage: Frei nach Milton H. Erickson „Alles zu nutzen, was hilft!“ beziehen Sie unterschiedlichste Methoden konzeptionell und praktisch in Ihre Arbeit mit ein, wie Ego-State-Therapie, Somatic Experiencing Traumatherapie, die Klopftechnik PEP , basierend auf der Prozess-und Embodimentfokussierten Psychologie u. v. m. Gibt es Grenzen und Gefahren beim Einsatz eines so weitgefassten therapeutischen Repertoires? 

Silvia Zanotta: Da jeder Mensch einzigartig ist und ich nicht wissen kann, was für ihn das Richtige ist, bin ich froh, eine breite Palette von Bewältigungsmöglichkeiten anbieten zu können. Zentral dabei ist aber, dass ich den Klienten genau dort abhole, wo er gerade ist, aufgrund seiner Reaktionen mit ihm schaue, was jetzt gerade genau für ihn passt. Außerdem muss ich mich mit den Interventionen wohl fühlen, sie müssen zu mir und meiner Art zu arbeiten passen. Ich muss genau wissen, was ich tue. Entsprechende Fortbildungen und Supervision und/oder Intervision sind obligatorisch. Wichtig dabei ist aber auch: die Ego-State-Therapie und das Fokussieren auf Körperempfindungen und - reaktionen sind wie Hypnose stets kreativ, d.h. ich darf mich auch als Therapeutin auf Überraschungen und originelle Lösungen einstellen.

Carl-Auer-Literaturhinweis: 
Silvia Zanotta: 
„Wieder ganz werden – Traumaheilung mit Ego-State-Therapie und Körperwissen" Neuerscheinung September 2018!