Spielen ist nichts für Feiglinge!
Heute vertrauensvoll auf die Beständigkeit von Paarbeziehungen zu setzen, gilt als weltfremd. Jede dritte Ehe wird in Deutschland geschieden. Ohne Beziehungsarbeit geht es nicht, aber schon das Wort zeigt an, wie zäh, mühsam und unfroh diese Arbeit sein kann. Stefan Eikemann setzt dem therapeutischen Arbeits- ein Spielkonzept mit ganz besonderen Regeln entgegen.

Im Vorwort zu Eikemanns  „Spielraum des Paares – Wagnis und Entwicklung in der Paartherapie“, konstatiert Claudio Angelo, dass lange Zeit eine „grundsätzliche Schwäche der Systemtheorie im Mangel einer Theorie des Individuums aus psychologischer Sicht“ bestanden habe. Den Konstruktionen des eigenen (Herkunfts-) Systems verhaftet und es gleichzeitig in seiner Funktion beeinflussen zu können, gehört zu den Schwierigkeiten bei der theoretischen „Verortung“ des Individuums. Treffen verschiedene  Systeme zusammen, zum Beispiel verschiedene Herkunftssysteme in der Paarkonstellation – erst recht aber in der Konstellation Paar-Therapeut – wird der Diskurs ungleich komplexer, sind die Systeme doch selten klar abgegrenzt. Es gibt Überlappungen, Grauzonen sowie Wirkkräfte, die weder dem einen noch dem anderen eindeutig zuzuordnen wären. 

Am Ausgangspunkt seines Buches stand für Stefan Eikemann daher die Frage: „Was geschieht in den Zwischenräumen zwischen den Systemen?“ Kommunikation, als reflexartige Antwort, habe ihn noch nie zufriedengestellt, sagte der Autor.

In der Paartherapie arbeitet Eikemann unter anderem mit der Fähigkeit der Paare, die Bedeutungen aus den Systemen ihrer Herkunftsfamilien zu transformieren und in etwas Neues zu verwandeln. Dabei fällt auf, dass Paare in diesem Prozess, in dem sie sich gewissermaßen zwischen den Systemen aufhalten und aufeinander zubewegen, Momente von spielerischem Unernst auch bei ernsten Themen erleben. Der unscharfe Übergangs- oder Grenzbereich markiert für Paare genau die Spielfläche, auf der Bedeutungen und Setzungen aufgehoben, relativiert, umgedeutet und neu bewertet werden dürfen. Dabei entstehen Entwicklungsimpulse und Antriebskräfte, die die Paarbeziehung lebendig erhalten oder ganz neue Herausforderungen bringen.

„Die Doppelfunktion des Paares, im Zwischenraum und als Teil von Systemen, erfordert einen ständigen Prozess der Anpassung und des Ausgleichs beider Funktionen. Vor allem wenn es sich die Liebe und das Begehren bewahren möchte, darf es den Zwischenraum zwischen den Systemen nicht ganz verlassen. Die wird nicht durch die „vom Himmel gefallene Liebe“ sichergestellt. Die Liebe bleibt nur, indem sich das Paar immer wieder, innerhalb der sich ständig ändernden Systeme, in den Zwischenraum zurückbegibt und sich seinen Spielraum offen hält,“ meint der Autor.

Stefan Eikemanns Reflexionen zur Paarentwicklung, übrigens angereichert mit einer Fülle von beeindruckenden Beispielen aus seiner Beratungspraxis, sind durchaus übertragbar auf die Individualentwicklung: Verstanden als ein Ausschauhalten nach und Verweilen in den Übergangssphären zwischen den komplexen eigenen Bezugssystemen, dort, wo deren „Zumutungen“ an jeden einzelnen von uns diffundieren und unerwartete Freiräume sich auftuen, können solche „Spielräume“ jedem dabei helfen, neue Perspektiven zu gewinnen und wieder wertschätzender auf die Anforderungen des eigenen Daseins einzuschwenken. Insofern können nicht nur Therapeuten und Paare, sondern auch Singles das Buch von Stefan Eikemann nach der Lektüre mit viel Gewinn vorerst aus der Hand legen. 

Carl-Auer-Literaturtipp:
Stefan Eikemann: „Spielraum des Paares – Wagnis und Entwicklung in der Paartherapie“