Kontingenz – der Raum, in dem sich Möglichkeiten öffnen

- Gitta & Ralf Peyn


Kontingenz lässt sich auf zweierlei Arten referenzieren:


→ weder notwendig, noch unmöglich
→ auch anders möglich


 


Der Begriff wurde für Kybernetik und Systemtheorie, wie so viele andere, aus der Mathematik entlehnt: In der mathematischen Logik wird eine FORMel/Proposition als Kontingenz bezeichnet, wenn sie bei unterschiedlicher Belegung ihrer Variablen in Resultat/Reduktion unterschiedliche Werte produziert. Die Kontingenz ist weder Tautologie (immer wahr) noch Widerspruch (immer falsch).


Tautologie: (A ˄ B) (B ˄ A)
Widerspruch: (A ˄ B) ¬ (A ˄ B)
Kontingenz: (A ˄ B)


 


Das Wort Kontingenz stammt aus dem Lateinischen von contingere: berühren, erreichen, heranreichen, zuteil werden, angrenzen, in verwandtschaftlicher/freundschaftlicher Beziehung stehen.


Im philomag-Lexikon steht zu Kontingenz: „Im Gegensatz zum Notwendigen meint die Kontingenz, dass etwas eintritt oder eben nicht eintritt, oder dass es grundsätzlich anders sein könnte, als es ist.“


Wir können Kontingenz als Möglichkeitsraum oder Handlungsrahmen begreifen. Und in dieser FORM dann wird das Konzept für Lernen wie auch für Management/Leadership und Problemlösen jeglicher Art interessant.


Während das Konzept Kontingenz andernorts häufig relativierend und argumentativ rhetorisch als Kampfbegriff genutzt wird, um Kritik abzuwehren („Das kann man ja auch anders sehen!“, „Das ist halt ambivalent!“), möchte ich hier den Fokus auf die konstruktiven Eigenschaften von Kontingenz richten. Wir sollten bei diesem Versuch darauf achten, „kontingent“ nicht mit „egal“ oder „beliebig“ zu verwechseln. Wenn jemand das tut, dürfen wir ihren Trick ganz zu Recht mit „rhetorisch“ bestempeln, denn:


Kontingenzen ersinnen sich im Spannungsfeld von Notwendigkeit und Unmöglichkeit als „auch anders möglich“ … und wer das mit Beliebigkeit zu erreichen versucht, verbrennt sich schnell Mund und Finger und macht Bekanntschaft mit Erfolglosigkeit und Sinnlosigkeit.


Systemzustände kompatibler Systeme können kontingent fungieren, jedoch können wir nicht einfach die Unmöglichkeiten dieses Rahmens zu Möglichkeiten befördern und seine Notwendigkeiten dazu degradieren, ohne den Rahmen zu sprengen.


Kontingenz wird von Notwendigkeit und Unmöglichkeit begrenzt. Nehmen wir diese konstruktiven und konstitutiven Grenzen weg, zerfließt Kontingenz, auch anders Möglichkeit, Möglichkeit in ...


Wenn Sie jemanden in einem Fluss ertrinken sehen und beschließen ihm/ihr das Leben zu retten, haben Sie in diesem System mit dem Ziel das Leben des Anderen zu retten kontingente Lösungsansätze, zum Beispiel: Sie werfen ihr ein Seil zu oder einen Rettungsring oder einen Ast oder springen ins Wasser und ziehen sie an Land oder Sie holen, wenn Sie selbst nicht (gut) schwimmen können oder keine Rettungsausbildung haben, Hilfe, usw. Gehen Sie hingegen einfach weg, vielleicht sogar mit der Einbildung „wenn ich weggehe, wird das zur Ursache dafür, dass eine Andere das Problem löst“, fungiert Ihr Verhalten/Operieren in diesem System nicht als Kontingenz, sondern als Widerspruch. Sie verlassen den Kontingenzraum des Problems/Systems: Ihr Handeln ist unmöglich, denn in diesem System war es notwendig, dass Sie Leben retten.


In einem anderen System allerdings mit dem Ziel persönliche Lustbefriedigung könnte letztere Operation kontingent fungieren, wenn die Einbildung stark genug wirkt, um Selbstzweifel und Gewissensbisse zu verdrängen. „Weggehen“ könnte natürlich auch einfach ein Akt von Rache oder Gleichgültigkeit sein.


Ich möchte an einem hübschen mathematischen Beispiel zeigen, wie Kontingenz funktioniert und sogar so funktioniert, dass Sie mit Kontingenz zu konkreten Ergebnissen kommen, anstatt einfach nur zu dem lab(b)rigen und so oft zynischen Urteil: „Tja, das ist halt anders möglich!“


Nutzen Sie Kontingenz, um ihren Möglichkeitsrahmen, ihren Handlungsspielraum auszuloten. Konstruieren Sie kontingente Systeme. Fertigen Sie kontingente Systembeschreibungen an. Nutzen Sie die Idee der Kontingenz, um sich den faktischen Raum zu öffnen, den sie referenziert.


Denken in Kontingenzen kann Freiheit steigern, die Fähigkeit, immer wieder die nächsten Möglichkeiten zu schaffen!


 


Eine mathematisch-systemische Textaufgabe zu Kontingenz:


 


Systembeschreibung 1


Zwei Pedelec-Fahrer fahren von entgegengesetzten Enden
einer Strecke von 100 km Länge aufeinander zu.
Der eine,
A, startet mit 50 km/h am einen Ende,
der andere,
B, startet zur gleichen Zeit am anderen Ende mit 25 km/h.
Wann/Wo treffen sie sich?


Das wäre unsere erste auch anders mögliche System/Problem-Beschreibung.


Kontingente Systembeschreibung 2:


Pedelecfahrer A fährt welche Strecke? |------------------------------
Pedelecfahrer
B fährt welche Strecke? |---------------

Wie lange brauchen ein Pedelecfahrer A,
der mit 50 km/h fährt, und ein Pedelecfahrer B,
der mit 25 km/h fährt, um zusammen/addiert
die Strecke von 100 km zurückzulegen.


A fährt in einer Zeit t eine bestimmte Strecke und B fährt in Zeit t eine bestimmte Strecke. Abstrahieren/formalisieren wir diesen Ansatz.


 


Kontingente Systembeschreibung 3:


50km/h · t + 25km/h · t = 100 km



Und jetzt nutzen wir unser Wissen aus dem Mathematikunterricht unserer Schulzeit und legen los mit,
Kontingente Systembeschreibung 4, einer Äquivalenztransformation:


t · (50km/h + 25km/h) = 100 km


 


Kontingente Systembeschreibung 5:


t = 100km / 75km/h = 100/75 · km · h/km = 4/3 · h = 11/3 h

A und B treffen sich nach 1h 20min.
A hat 50km/h · 4/3 h = 66,666...km zurückgelegt.
B hat 25km/h · 4/3 h = 33,333...km zurückgelegt.



Unsere Kette kontingenter Systembeschreibungen hat uns zu konkreten Ergebnissen geführt. Unser System war offen und simpel, jedoch können wir den analytischen Ansatz auch auf kontingente Beschreibung komplexer geschlossener Systeme übertragen. Diese bestimmen und prognostizieren sich am Ende nur durch und in sich selbst, wir aber können, wenn wir ihren Kontingenzrahmen erfassen und uns ihre Kontingenzräume erschließen, ihre Orientierung begreifen.


Kontingenz markiert unsere Wahlmöglichkeiten. Erschließen wir Kontingenzräume, öffnen wir Wege zu kontingenten Systembeschreibungen und kontingenten Systemkonstellationen.


Denken in Kontingenzen ermöglicht, durch Relationieren kontingenter Perspektiven konkrete Ergebnisse zu erzielen.


 


Lesetipps:


https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/kontingenz


https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/komplexitatsmanagement-modell-stufen-formen


https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/die-funktion-der-ideologie


https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/blattlause-bauen-keine-mondraketen


https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/individualitat-und-globalisierung