Disruption in den Wissenschaften (z.B. der Virologie)

Meist denkt man ja – Thomas Kuhn folgend – an einen Paradigmawechsel, wenn von disruptiven Entwicklungen in den Wissenschaften die Rede ist: Das ptolemäische Weltbild mit der Erde als Mittelpunkt, um die sich Sonne und Mond usw. drehen, wurde durch das kopernikanische mit der Sonne als Mittelpunkt, um die sich die Erde dreht, abgelöst usw.


Derartige Revolutionen ändern die Sichtweise der Wissenschaftler und verändern ihre Kommunikation in der Sachdimension. Die Wissenschaftsgeschichte ist voll solcher Paradigmawechsel...


Aber das ist nicht die einzige Art, wie es zu revolutionären Entwicklungen in den Wissenschaften kommen kann. Denn die Scientific Community ist ein soziales System, d.h. ein Kommunikationssystem. Und die Struktur dieses Systems wird zu einem großen Teil durch die Kommunikationswege und –medien bestimmt, durch die Wissen geteilt (oder eben nicht geteilt) wird. Die aktuelle Diskussion über den Patentschutz für Corona-Impfstoffe mag dies illustrieren.


Die Virologie kann m.E. auch als gutes Beispiel dafür dienen, dass Einzelne – ohne dass sie Kopernikus heißen – solche Revolution auslösen können.


Solch eine Einzelne ist Ilaria Capua. Sie hat quasi im Alleingang die Spielregeln virologischer Forschung verändert. Frau Capua ist eine italienische Virologin, die in Italien zur Ikone der Frauenbewegung geworden ist. Mutter einer Tochter, erfolgreiche Forscherin, zeitweise aktive Politikerin, jetzt wieder Forscherin.


Als Wissenschaftlerin widmete sie sich – zunächst in einem kleinen, von ihr geleiteten Labor, das mit der Zeit immer größer wurde – der Frage, wie Viren den Sprung von Tieren zum Menschen vollziehen. Sie wurde international bekannt, weil es ihr und ihren Mitarbeitern gelang, das Virus der Vogelgrippe (H5N1) zu sequenzieren. Das allein wäre wahrscheinlich schon Grund gewesen, ihr zu internationaler Reputation zu verhelfen, aber das wäre nicht revolutionär gewesen. Ihre, das Feld der Virologie verändernde, Maßnahme war, dass sie gegen ein ungeschriebenes Gesetz der Virologie verstieß: Bis dahin galten die Ergebnisse solcher Sequenzierungen als eine Art Geheimwissen, das nur einer kleinen und elitären Gruppe von Wissenschaftlern und Instituten zugänglich war. Da es für diese Regel – jenseits der Herstellung und Erhaltung der Exklusivität dieser kleinen Forschergruppe (zu der Frau Capua gehörte) keine einsichtigen sachlichen Gründe für die Geheimhaltung gab, beschloss Ilaria Capua die Virus-Sequenz im Internet zu publizieren, d.h. für jeden zugänglich zu machen, der damit arbeiten wollte.


Der Skandal war beträchtlich. Sie wurde sogar ausdrücklich von der WHO dafür gerügt, und welchen Ärger ihr diese Maßnahme bei ihren Kollegen des elitären Kreises einbrachte, kann sich jeder sicher selbst vorstellen, der schon einmal zu solch einem Kreis gehörte und ihn – ohne Einverständnis der anderen Mitglieder – geöffnet hat.


Aber ihre Maßnahme hatte weitreichende Konsequenzen: Nach und nach etablierte sich die Publikation der Virus-DNA im Internet als neuer Standard. Dieses Wissen wurde allen zugänglich, die damit arbeiten wollten.


Wenn Anfang 2020 chinesische Wissenschaftler die DNA des Corona-Virus publiziert haben, so war dies die Folge der disruptiven Aktion von Ilaria Capua. Ohne sie hätten wir jetzt wahrscheinlich nicht etliche Covid-19-Impfstoffe.


Ein – wie ich finde – beeindruckendes Beispiel, wie die Aktionen einzelner Personen die Funktions-Logik sozialer Systeme verändern können.


(Nachbemerkung: Da ich die Karriere von Frau Capua schon seit längerer Zeit verfolge, ist mir natürlich auch nicht verborgen geblieben, dass sie etliche Bücher - alle Bestseller in Italien – geschrieben hat: In etwa drei Wochen erscheint, wenn ich richtig informiert bin, eines ihrer Bücher auf Deutsch: eine Einführung in die Virologie, verständlich für alle, für Jugendliche zwischen 11 und 91.)