Ich hatte immer drei oder vier Bücher im Gepäck

Wir „trafen“ uns zu einem virtuellen Online-Interview mit Christel Rech-Simon, der Herausgeberin der Carl-Auer Kids Reihe und kommunizierten über die Vorreiterrolle des Carl-Auer Verlags, über schrottige und tolle Kinderbücher und über die Gefahren der Einwegkommunikation bei den Neuen Medien.


Liebe Frau Rech-Simon, Sie sind Herausgeberin der Reihe Carl-Auer Kids im Carl-Auer Verlag. Zudem übernehmen Sie für viele der Kinderbücher die Übersetzungen aus dem Italienischen, Französischen oder Englischen ins Deutsche. Unser Verlagsprogramm steht für hochwertige Bücher, die das Selbstvertrauen von Kindern stärken, die Persönlichkeiten entwickeln und die einfach Spaß machen. Was erscheint Ihnen am wichtigsten, was reizt Sie besonders bei einem guten Buch? Ist es eher das Thema, der Text oder die Illustration? Oder ist alles zusammengenommen gleich wichtig?


CRS: Als erstes, wenn ich ein Kinderbuch in die Hand nehme, schaue ich mir die Illustrationen an. Ich nehme es überhaupt nur in die Hand, wenn mir das Cover irgend etwas sagt. Die Art der Illustrationen zeigt für mich schon, wie ein Thema behandelt wird. Wenn mich die Bilder nicht ansprechen, schaue ich gar nicht erst ins Buch. Was ich überhaupt nicht mag, sind Karikaturen in Kinderbüchern (sonst schon). Wenn die Illustrationen stimmen, passt meist der Text auch. Offensichtlichen finden Autor und Illustrator zusammen, wenn ihre Weisen, die Welt zu sehen, zueinander passen. Und das gilt auch für die Themen, die sie sich aussuchen. Auch die müssen für beide wichtig sein und sie müssen sich beide mit einem Thema identifizieren können.


Wie kam es dazu, dass der renommierte Carl-Auer Verlag nach fast 25 Jahren Verlagstätigkeit für Fach- und Sachbücher vor sieben Jahren damit begann, das Segment des Kinderbuches zu erobern?


CRS: Es erscheint mir aufgrund meiner Erfahrung als Kinder- und Jugendlichen-Therapeutin nicht erstaunlich, dass ein Verlag, der therapeutische Fachbücher publiziert, auch Kinderbücher veröffentlicht, da sie für mich immer auch ein Mittel in der Therapie waren – aber eben eines, zu dem man keine Therapeuten braucht. Daher habe ich mich natürlich gefreut, als ich gebeten wurde, sie heraus zu geben.


In Deutschland erscheinen jedes Jahr um die 8.000 neue Bilder- und Kinderbücher. Was macht die von Carl-Auer Kids besonders und unterscheidet sie von der breiten Masse?


CRS: Sie passen zum Verlag. Der war ja immer ziemlich innovativ und kreativ als Vorreiter systemischen Denkens und der systemischen Therapie. Das heißt, es werden keine schlichten Rollenbilder und Vorstellungen von Familie vermittelt, die der Diversität heutiger Lebensformen – von der Patchworkfamilie bis zu gleichgeschlechtlicher Elternschaft, von der Demenz von Oma oder Opa bis zur Migration – nicht mehr gerecht werden. Das heißt, es geht mir um Themen, die nicht nur eine „heile Welt“ darstellen, sondern auch die Brüche, Tabus und Konflikte in zwischenmenschlichen Beziehungen, denen man ja fast immer auch etwas Gutes abgewinnen kann.


Schöne Geschichten, die im Gedächtnis bleiben und Kinder zum Nachdenken über die Welt einladen, sind echte Schätze und können Kinder noch lange auf ihrem Lebensweg in die Welt begleiten. Gibt es Bücher aus Ihrer Kindheit, die Sie maßgeblich geprägt haben oder die Sie so wunderbar fanden, dass Sie sie nie vergessen haben?


CRS: Für mich waren Märchenbücher wichtig. Die wurden vorgelesen. Bilderbücher gab es bei uns wenig. Dann war der Sprung ganz schnell zum Selberlesen. Tausendundeine Nacht, Grimms Märchen, Enid Blyton, Astrid Lindgren, die üblichen Verdächtigen halt. Und dann gab es da noch die ganz alten Bücher: Ilse Ury, Johanna Spyri, nicht zu vergessen Karl May und Charles Dickens. Ich habe auf jeden Fall, wenn zum Beispiel Verwandte besucht wurden, nie ohne drei oder vier Bücher im Gepäck das Haus verlassen. Es war sicher kein einzelnes Buch, das mich ganz besonders geprägt hat, sondern die Tatsache, dass man beim Lesen in einer fremden Welt verschwinden konnte.


Welche Bilder- und Kinderbücher haben Sie und Ihr Mann Ihren eigenen Kindern gerne vorgelesen, als die beiden noch klein waren? Und welche lesen Sie heute am liebsten Ihren Enkeln vor?


CRS: Heute gehören natürlich Carl-Auer Kids zu meinen Favoriten. Wer hat schon das Privileg, sich die Bücher, die ihm gefallen, drucken zu lassen. Meinen Kindern habe ich aber nicht nur „Oliver Twist“ vorgelesen, sondern auch von Roald Dahl „Matilda“, von Edtih Nesbitt „Die Eisenbahnkinder“, von Burnett Frances Hodgson „Der geheime Garten“ und natürlich die Bücher von Michael Ende und Paul Maar: „Jim Knopf“, „Momo“, Das Sams“, und immer wieder die Bücher von Astrid Lindgren.


Sie sind normalerweise jedes Jahr auf der Kinderbuchmesse in Bologna und bringen von dort neue Titel von bekannteren oder bislang unbekannteren Autorinnen und Autoren mit. Die Messe 2020 wurde aufgrund des Corona-Virus abgesagt. Wie und wo finden Sie sonst noch Bücher aus anderen Ländern, die dann hier im Haus übersetzt und verlegt werden?


CRS: Bologna ist natürlich großartig. Obwohl man dort auch sehen kann, wieviel Schrott auf dem Markt ist. Da können einem die Kinder, denen das vorgesetzt wird, nur leidtun. Aber es ist ja sicher kein Zufall, dass die Kinderbuchmesse in Italien stattfindet, denn dort gibt es sehr interessante Kinderbuchverlage, die zum Beispiel – wie wir es tun – philosophische Themen in kindgerechter Form präsentieren. Auch wenn Bologna in diesem Jahr nicht stattfindet, haben wir keine Probleme unser Programm zu gestalten. Die Verlage gibt es ja alle noch und sie schicken uns auch ihre Bücher. Außerdem versuchen wir zunehmend auch Eigenproduktionen auf den Markt zu bringen. Die aktuellen Reisebeschränkungen nehmen mir aber – was ich sehr bedaure – die Möglichkeit jenseits von Bologna an Orten wie London oder Paris in Buchhandlungen zu stöbern, was für mich immer Entdeckungsreisen sind.


Die Bücher von Carl-Auer werden nachhaltig in Deutschland und anderen Ländern innerhalb der EU hergestellt. Dabei werden Ressourcen geschont und kurze Transportwege garantiert, um den CO2-Fußabdruck so gering wie möglich zu halten. Die Bücher werden für den Versand ganz ohne Plastik klimaschonend verpackt. Wie wichtig ist Ihnen als Herausgeberin die Einhaltung von Energie- und Klimazielen?


CRS: Sehr wichtig. Ich fände es komisch, wenn in unseren Büchern Werte propagiert würden, denen wir selbst nicht gerecht werden.


Als sehr erfahrene Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin haben wir eine Frage an Sie zur Mediennutzung von Kindern: Wie schätzen Sie die Gefahren einer frühen Nutzung von Handy, Tablet, Fernseher und Co. ein? Wie lange sollten Kindern lediglich Bücher gegeben und vorgelesen werden? Und wie schafft man es, Kinder möglichst über einen langen Zeitraum, vielleicht lebenslang für Bücher zu begeistern?


CRS: Bei Vorschulkindern ist es besonders wichtig, dass vorgelesen wird, vor allem, wenn es spannend wird. Denn die Anwesenheit eines Erwachsenen, dessen körperliche Nähe, gewährt Sicherheit und Schutz. Der oder die Vorleserin sieht, wie das Kind reagiert und kann darauf eingehen. Das Problem der neuen Medien ist meines Erachtens die Einwegkommunikation. Deren Konsum ist auf den visuellen und auditiven Kanal beschränkt, der Rest des sinnlichen Erfahrens fehlt. Wenn dann noch Chips dazu gegessen werden, dann ist das die Möglichkeit den perfekten Konsumenten heranzuziehen. Aber man kann den etwas größeren Kindern sicher nicht verwehren, das Tablet oder Smartphone etc. zu nutzen, wenn alle anderen Kinder es nutzen. Es kommt sicher auf die Menge und Ausschließlichkeit an. Das Problem ist, dass diese Dinger einfach die Aufmerksamkeit in einer sehr exklusiven Weise beanspruchen, so dass der Blick auf den Rest der Welt verloren geht. Vorlesen ist auf jeden Fall das beste Mittel gegen den übermäßigen Konsum technischer Medien – aber ich will die hier gar nicht verteufeln. Die Idee allerdings, dass Kinder viel am Computer lernen, halte ich für eine Selbstberuhigung von Eltern, die keine Zeit haben. Man lernt im Umgang mit anderen Menschen, beim Sport, beim Spiel, in der Natur usw. sicher mehr als mit irgendwelchen Lernprogrammen vor der Mattscheibe.


Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Auf welche neuen Kinder- und Bilderbücher von Carl-Auer Kids darf man sich in der nächsten Zeit freuen?


CRS: Ich bin natürlich sehr angetan von dem, was im Moment in der Pipeline ist. Vor allem, dass wir nun beginnen, mit Graphic Novels auch Bücher für Jugendliche anzubieten. „Nora“ handelt vom Tod eines Geschwisters, sehr anrührend, sehr reflektiert, sehr hilfreich für diejenigen, die es betrifft, aber auch für alle, die aus der Ferne Zeuge solcher Verluste sind. Dann erscheint eine Geschichte von einem „ziemlich netten Wolf“, der sich weigert, der sprichwörtliche „böse Wolf“ zu sein. Was mir besonders gefällt ist „Snoozette“, ein Mädchen, das sich traumwandlerisch durch die Welt bewegt und damit die Wirklichkeit verändert. Dann gibt es bei uns einen Hamster, der hamstert – nicht Klopapier – aber doch von allem mehr, als er braucht; ein Buch von einem starken Mädchen, „Lucia“, das sein Licht nicht unter den Scheffel stellen lässt, und vieles mehr...