Pünktlich zum neuen Buch: Interview mit Dr. Lutz Wesel

Dr. Lutz Wesel ist Allgemeinmediziner, systemischer Psychotherapeut, Hypnotherapeut und seit seinem Buch  „Wie sag ich’s meinem Doc? – Machen Sie das Beste aus Ihrem Arztbesuch!“ auch ein anerkannter Experte für die Arzt-Patient-Kommunikation.  Er hat als Mediziner zahlreiche Krebspatienten begleitet und selbst eine schwere Krebserkrankung überstanden. Im Gespräch mit dem Carl-Auer Verlag hat der Autor auf Fragen zu seinem neuen Buch „Krebs – vom Diagnoseschock zum besonnenen Handeln – Hilfe für Erkrankte und ihre Angehörigen“ ausführlich geantwortet.

Carl-Auer Verlag: Lieber Herr Wesel, Sie sind vielen Lesern als Fachmann für die Arzt-Patienten-Kommunikation bestens bekannt. Nach Ihrem erfolgreichen Ratgeber für ein gutes Arztgespräch „Wie sag ich’s meinem Doc“ setzt Ihr neues Buch in dem Augenblick ein, wenn der Patient erfährt, dass er an Krebs erkrankt ist. Was macht eine Krebsdiagnose für Patienten und ihre Angehörigen so anders als alle anderen Diagnosen, dass Sie ihr ein ganzes Buch widmen?

Dr. Lutz Wesel: Die Krebsdiagnose unterscheidet ich von nahezu allen anderen Diagnosen durch ihre plötzliche und unmittelbare Konfrontation mit Leiden und Tod. Für die meisten Menschen stellt sie das „worst case scenario“ dar. Bei den allermeisten tauchen sofort Horrorvisionen von schrecklichen Therapien mit furchtbaren Nebenwirkungen auf  und sie befürchten, nun im Räderwerk unmenschlicher Apparatemedizin zermalmt zu werden.
Aus dieser Erfahrung heraus, die ich als Arzt, aber auch als Patient gemacht habe, hielt ich es für nötig, ein Buch zu schreiben, welches sich an frisch diagnostizierte Krebspatienten und ihre Angehörigen richtet und ihnen in kompakter und leicht verständlicher Form erstens alle notwendigen Informationen gibt und ihnen zweitens klar macht, dass man so eine Erkrankung durchaus ruhig und besonnen angehen und heil überstehen kann.

Carl-Auer Verlag: Sie erklären gleich zu Beginn Ihres Buches, Krebs sei heilbar! Ist das nicht eine äußerst gewagte Aussage?

Dr. Lutz Wesel: Keinesfalls! Denn erstens werden heutzutage weit über die Hälfte aller Krebspatienten geheilt und zweitens ist in meinem medizinischen Weltbild prinzipiell kein Platz für den Begriff „unheilbar“. Mir ist jedenfalls keine Krankheit untergekommen, von der Menschen nicht wider aller Erwartungen und Prognosen geheilt wurden. Man kann also niemals sicher wissen, wie das Schicksal des einzelnen Patienten verläuft. Ich bin mir natürlich darüber bewusst, dass es Krankheiten gibt, die man sehr ernst nehmen muss, weil sie potentiell lebensbedrohlich sind und das muss man den betroffenen Patienten kommunizieren, damit sie wissen, woran sie sind. Gleichwohl würde ich als Arzt den Begriff „unheilbar“ niemals gegenüber einem Patienten erwähnen, weil er einem Todesurteil gleichkommt und eine ungeheuer negative suggestive Wirkung hat. Die Forschungsergebnisse der Psychoneuroimmunologie lehren uns, dass solche Suggestionen das Immunsystem eines Patienten massiv schädigen und somit leicht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung (self fullfilling prophecy) werden können.

Carl-Auer Verlag: Bei vielen Krebspatienten besteht vermutlich ein dringendes Bedürfnis, sich nach der Diagnose so viele Informationen wie möglich zu beschaffen, um schnell die Kontrolle über das eigene Schicksal zurückzugewinnen. Auch Sie haben, als Sie selbst schwer an Krebs erkrankten, so gehandelt. Dennoch raten Sie Lesern, aufs »Googeln« unbedingt zu verzichten. Warum?

Dr. Lutz Wesel: Es gibt rund 3.000 verschiedene Krebsarten. Zu jeder einzelnen davon sind im Internet ‘Zigtausende von Einträgen zu finden. Das Googeln von medizinischen Sachverhalten überschwemmt Patienten mit einem Tsunami von Informationen, die so komplex und auch widersprüchlich sind, dass es einem Laien schlichtweg unmöglich ist, die Spreu vom Weizen zu trennen und zu einem klaren Bild zu kommen. Google liefert Informationen, aber kein Wissen. Wissen entsteht aus der Kombination von Information und Erfahrung. Ein Arzt braucht 6 Jahre Studium plus nochmals rund 6 Jahre Facharztausbildung, bis er sich in einer medizinischen Fachdisziplin einigermaßen auskennt und noch viele Jahre mehr, bis er es darin zur Meisterschaft gebracht hat. Deshalb ist es völlig unrealistisch, zu erwarten, dass man als Laie in ein paar Stunden Internet-Recherche in der Lage sein soll, derart komplexe Zusammenhänge begreifen zu können und sich dadurch in die Lage versetzt, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Carl-Auer Verlag: Sie sprechen von Wissen und Erfahrung, dann wäre für Krebspatienten der Arzt letztlich doch alternativlos der einzige Lotse durch die Krankheit?

Dr. Lutz Wesel: Das sehe ich so. Genauer gesagt, sollte der Hausarzt Lotse und Ansprechpartner Nummer eins sein. Denn er hat neben dem medizinischen Sachverstand auch noch die Kenntnis über die Persönlichkeit und die Lebensumstände des Patienten. In der heutigen medizinischen Realität ist es leider oft so, dass Krebspatienten völlig von den beteiligten Fachärzten und Onkologen vereinnahmt werden und der Hausarzt sie monatelang nicht mehr zu sehen bekommt.

Carl-Auer Verlag: Sie trennen den Krankheitsverlauf in zwei Phasen: Die Phase der Bekämpfung des Krebses und die Phase der Rehabilitation. Die erste Phase vergleichen Sie mit einem Feuerwehreinsatz. Warum haben Sie ein solch eindringliches Bild gewählt?

Dr. Lutz Wesel: Die von mir vor vielen Jahren erfundene „Feuerwehr-Metapher“ hat sich im Kontakt mit Krebspatienten als sehr nützlich erwiesen. Vielen Patienten ist nicht klar, dass eine Krebserkrankung keinen Aufschub duldet, weil mit jeder Woche ohne adäquate Behandlung die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass die Erkrankung vollständig geheilt werden kann.
Sie haben Angst vor der Radikalität einer schulmedizinischen Behandlung und liebäugeln damit, es erst einmal mit „sanften“ Methoden zu versuchen. Bei aller Sympathie für sanfte Methoden, die ich in vielen Fällen leichterer Erkrankungen durchaus für sinnvoll halte, ist es doch so, dass eine Krebserkrankung eine schwere, potentiell lebensbedrohliche Situation darstellt, auf welche schnell und mit allen gebotenen Mitteln reagiert werden muss. Und das vergleiche ich dann eben mit einem Brand, wo man halt die Feuerwehr rufen muss, um weiteren Schaden zu vermeiden. Wenn Ihr Haus lichterloh in Flammen steht, greifen Sie ja auch nicht zur Gießkanne, weil Ihnen die Feuerwehr zu aggressiv erscheint. Besser, Sie rufen gleich die Spezialisten für moderne Brandbekämpfung, lassen die machen und kümmern sich später darum, die Kollateralschäden des Feuerwehreinsatzes zu beheben. Und das kann man –  im Fall von Krebserkrankungen –dann durchaus mit sanften Methoden machen.

Carl-Auer Verlag:
Während Sie in der akuten Behandlungsphase auf die Schulmedizin setzen, scheint Ihnen in der Rehabilitation jedes Mittel recht, um dem Patienten wieder zu neuem Lebensmut und Gesundheit zu verhelfen. Bitte erklären Sie uns, was Komplementärmedizin hier zusätzlich leisten kann.

Dr. Lutz Wesel: Dass mir jedes Mittel recht wäre, kann ich so nicht im Raum stehen lassen. Richtig ist, dass ich der Meinung bin, dass die Schulmedizin in der Primärbehandlung einer Krebserkrankung alternativlos ist. Aber ich kann mich an kaum einen Krebspatienten erinnern, der sich am Ende einer schulmedizinischen Behandlung nicht ziemlich „platt“ gefühlt hat und das Bedürfnis artikulierte, dass unternommen werde, damit er wieder zu Kräften kommt. Und dies nicht nur in körperlicher Hinsicht, sondern auch in emotionaler. Schließlich ist eine Krebserkrankung beileibe nicht nur ein körperliches Ereignis, sondern rüttelt den ganzen Menschen durch, an Körper, Geist und Seele. 
Es kommt also oft darauf an, einen ganzheitlichen Ansatz anzubieten. Unter „ganzheitlich“ verstehe ich ein therapeutisches Spektrum, das aus Schulmedizin, Naturheilverfahren, psychologischen, energetischen und spirituellen Elementen bestehen kann –  je nach Befindlichkeit und Bedürfnissen der Patienten. Gemäß dem Motto „Wer heilt, hat recht“ ist mir dabei in der Tat alles willkommen, was der Patient als heilsam empfindet. Ich gebe auch zu bedenken, dass die komplementärmedizinischen Methoden von den Patienten gemeinhin als „sanfte Medizin“ erfahren und geschätzt werden. Sie nehmen diese als wohltuend und heilsam wahr. Allein das hat bekanntermaßen in einem hohen Prozentsatz der so behandelten Fälle einen Placeboeffekt zur Folge, der einen wesentlichen Beitrag zur Heilung leisten kann. Das ist ein wissenschaftlich eindeutig belegter Fakt, den selbst jene Hardcore-Mediziner einräumen müssen, welche die naturheilkundlichen Methoden als unwirksam, da nicht „evidenzbasiert“ ablehnen. Keinesfalls recht sind mir jedoch die sich auf diesem Feld zahlreich tummelnden Scharlatane, die erkannt haben, dass man sich an der Not schwer erkrankter und verzweifelter Menschen eine goldene Nase verdienen kann. In meinem ersten Buch habe ich deshalb sehr ausführlich erklärt, wie man seriöse von unseriösen Anbietern unterscheiden kann.

Carl-Auer Verlag: Ungewöhnlich für einen Mediziner ist, dass Sie der Spiritualität viel Platz im Heilungsprozess einräumen. Warum ist das so?

Dr. Lutz Wesel: Ja, für einen Mediziner mag das auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, weil die Schulmedizin ja in einer rationalen, wissenschaftlichen Tradition steht, wo Spiritualität kaum Platz hat. Wenn ich mich recht entsinne, nennt sich mein Fach aber auch „Human-Medizin“, was bedeutet, dass es hier um Menschen geht. Und Menschen sind nach meinem Dafürhalten spirituelle Wesen. Und zwar jeder Mensch. Viele mögen das nicht wissen, aber spätestens, wenn sie konkret mit dem Tod konfrontiert sind, wie das bei einer Krebserkrankung eben der Fall ist, fangen die meisten an, sich mit spirituellen Fragen auseinanderzusetzen. Was ist der Sinn des Lebens? Was ist der Sinn dieser Erkrankung? Muss ich sterben? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Was soll von mir bleiben? Wenn es Menschen dann gelingt, auf solche Fragen befriedigende Antworten zu finden, kann das nicht nur - wiederum auf psycho-neuro-immunologischen Wege –  die Heilung fördern, sondern auch dafür sorgen, dass ein Mensch in Frieden mit sich, Gott und der Welt in Frieden gehen kann, wenn die Zeit gekommen ist. Oder, um Suzi Smith, eine liebe amerikanische Freundin und große Therapeutin zu zitieren: „Healing doesn’t necessarily mean curing“ (Heilung muss nicht unbedingt bedeuten, dass jemand wieder gesund wird).

Carl-Auer Verlag: Sinnhaftigkeit zählt für Sie zu den zentralen Faktoren der Krisenbewältigung. Ebenso wichtig sind Verstehbarkeit, Machbarkeit und das soziale Netz. Wie wirken diese Faktoren im Genesungsprozess zusammen? 

Dr. Lutz Wesel: Die Stressforschung hat gezeigt, dass Menschen dann am ehesten mit großen Belastungen zurechtkommen, wenn sie erstens verstehen, was vorgeht, zweitens das Gefühl haben, dass sie selbst etwas tun können, um die Dinge zum Besseren zu wenden und drittens dem Ganzen einen Sinn abgewinnen können. Der vierte hilfreiche Faktor besteht darin, dass es die Belastbarkeit fördert, wenn Menschen in ein soziales Netz eingebettet sind, welches ihnen Trost, Mut und Liebe schenkt. Diese Erkenntnisse lassen sich wunderbar in der psychoonkologischen Arbeit mit Krebspatienten anwenden. Man erklärt ihnen genau, was es mit der Diagnose und Therapie auf sich hat, bindet sie in die notwendigen Entscheidungen ein, gibt ihnen Mittel zur Selbsthilfe an die Hand und hilft ihnen, dem ganzen einen Sinn abgewinnen zu können, für den es sich einzusetzen lohnt. Nicht ohne Grund werden diese Faktoren unter dem Begriff „Salutogenese“ zusammengefasst, was ja darauf hinweist, dass sie etwas mit Heilung zu tun haben. (lateinisch salus = Wohl, Wohlbefinden, Heil, Sicherheit, Gesundheit; -genese =griechisch γένεσις genesis ‚Geburt‘, Entstehung’). 

Carl-Auer Verlag: Was würden Sie als Arzt, Krebspatient und systemischer Therapeut einem frisch diagnostizierten Patienten zurufen? 

Dr. Lutz Wesel: Ruhig Blut! Das ist eine ernste Situation, die Ihre volle Aufmerksamkeit und Engagement erfordert. Deshalb kommt es jetzt darauf an, Ruhe zu bewahren, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, mit der richtigen Einstellung heranzugehen und mit Mut und Hoffnung voranzuschreiten. Über die Hälfte aller Krebspatienten werden geheilt. Also haben auch Sie ganz gewiss eine Chance, geheilt zu werden. Lesen Sie mein Buch! 

Carl-Auer Verlag: Kommen wir zum Schluss noch kurz zum sozialen Umfeld. Eine Krebsdiagnose versetzt Patienten und Angehörige in Stress. Was können Betroffene tun, damit der Gesprächsfaden nicht abreißt und eine heilsame Kommunikation möglich bleibt? 

Dr. Lutz Wesel: Diese Frage zielt auf ein ausgesprochen wichtiges Thema. Durch die mit der Diagnose und Therapie einhergehende psychische Belastung fragen sich viele Krebspatienten und deren Angehörige, ob sie Partner und Angehörige mit ihren Gedanken, Sorgen und Nöten belasten dürfen. Viele fühlen sich auch unsicher, ob und wie sie darüber reden können, welches der richtige Moment und die richtigen Worte sind. Über diese Unsicherheit kann sich leicht ein „Mantel des Schweigens“ ausbreiten, der dann jeden Beteiligten mit seinen Gedanken und Gefühlen einsam und alleine lässt. Das darf nicht sein! Und es gibt auch keinen triftigen Grund dafür, denn wenn ein Problem im Raum steht und jeder darum weiß, warum um Gottes Willen, soll man dann nicht auch mit seinen Nächsten und Liebsten darüber reden dürfen? Wie der Volksmund so schön sagt: „Geteiltes Leid ist halbes Leid!“. Psychologische Studien haben eindeutig bewiesen, dass ein intaktes Sozialleben einen wesentlichen Einfluss auf das Überstehen von schweren Belastungen darstellt. In meinem Buch zeige ich deshalb detailliert auf, dass und wie man es schafft, denn Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen und wie man auch in schwierigen Situationen die richtigen Worte findet.

Lieber Herr Dr. Wesel, herzlichen Dank für das Gespräch.

Carl-Auer-Literaturtipp: 
Lutz Wesel: „Krebs – vom Diagnoseschock zum besonnenen Handeln – Hilfe für Erkrankte und ihre Angehörigen“
Lutz Wesel: „Wie sag ich’s meinem Doc? – Machen Sie das Beste aus Ihrem Arztbesuch!“