Systemische Gruppendynamik – aus der Teilnehmerperspektive

Gestern hat Fritz Simon in seinem Nachbarblog Simons Kehrwoche über die in der vergangenen Woche bei Simon, Weber and Friends gelaufene gruppendynamische Woche geschrieben ( https://www.carl-auer.de/blogs/kehrwoche/systemische-gruppendynamik ), an der ich als Teilnehmer partizipieren durfte. Ich war also selbst Mitglied einer so genannten Trainings- oder kürzer: einer T-Gruppe.


Dieses besondere Lernformat habe ich erst nach meinem Start als Professor an der Universität Witten/Herdecke, also nach Juli 2017 kennengelernt und bin seit meiner ersten Erfahrung im letzten Jahr begeistert darüber, welchen empirischen Reichtum sozialer Interaktion, Interaktionsgeschichte und psycho-emotionaler Wahrnehmung eine T-Gruppe kreiert, der in dieser Gruppe sogleich intensiv erforscht werden kann. Angesichts dieser Erfahrungen mit dem T-Gruppen-Setting verstehe ich in neuer Weise, was Kurt Lewin, also ein Mitbegründer der Gruppendynamik, mit „Aktionsforschung“ meint, dass nämlich der Forschungsgegenstand und die Forscher nicht in klassischer, also nicht in wissenschaftlich-analytischer Weise zu trennen sind. Das, was in der gruppendynamischen Laborsituation erforscht wird, sind die Gruppenprozesse, die aus der minimalstrukturierten und damit erfahrbar doppelt kontingenten Situation selbst hervorgehen, ohne dass sie von einzelnen Gruppenmitgliedern gesteuert werden können. Die Teilnehmer*innen einer T-Gruppe sind zugleich forschende Beobachter*innen und aktive Teilnehmer*innen der sozialen Interaktion.


Das aus der Systemtheorie kommende Konzept der „doppelten Kontingenz“ (Niklas Luhmann, 1984, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.) beschreibt die zweifache Unsicherheit, die alle Beteiligten in sozialen Situationen erleben, dass sie sowohl ihre Erwartungen als auch ihr Handeln aufeinander ausrichten, ohne die Motive der anderen kennen zu können. Denn die Psychen bleiben intransparent: Wir können uns nicht in die Köpfe schauen. Und dennoch oder gerade deshalb entsteht soziale Struktur, also die Muster der Selektion, dass eben nur bestimmte Handlungen, Verhaltensweisen und Wortbeiträge von Gruppenteilnehmer*innen aufgegriffen werden und andere nicht. Daraus wiederum generiert sich die einmalige Geschichte eines sozialen Systems, das mit seinen Strukturen von Erwartungserwartungen die soziale Realität ausmacht, die erst das ausprägt, was wir oft kontextlos betrachten: uns selbst als Personen.


Neben dieser Soziodynamik können wir in der T-Gruppe beobachten, wie wir als Personen in sozialen Systemen vorkommen, um unser Vorkommen kämpfen oder auch unbeachtet in der Umwelt des sich selbstorganisiert vollziehenden sozialen Systems verbleiben und darüber enttäuscht sind. Gerade die Frage, wie wir selbst mit unseren Motiven, Interessen und Intentionen in der Lage dazu sind, durch unser Handeln und Verhalten Unterschiede im sozialen System der Gruppe zu machen oder wie und wann wir gerade dies nicht erreichen, ist ein wunderbarer Spiegel der Selbsterkenntnis: Was mache ich aus eigener Sicht? Wie wirkt dies auf andere in der Gruppe? Was wird mir dadurch zugeschrieben, und zwar in Identität und im Unterschied zur Selbstzuschreibung?


Solche und ähnliche Fragen können durch das individuelle Erleben in der Gruppe, vor allem durch die offene Artikulation der Antworten auf diese Fragen geklärt werden. Dies ist nicht immer leicht zu nehmen und zu akzeptieren, da bekanntlich Selbst- und Fremdwahrnehmung voneinander abweichen können. Aber wer es schafft, die Differenz von Eigen- und Sozialbeobachtung konstruktiv zu nutzen, sich diese Differenz anzuschauen, gewinnt mit der T-Gruppe ein ungewöhnliches Potential, um die eigene Persönlichkeitsentwicklung einen großen Schritt nach vorne zu bringen.


Denn obwohl immer wieder betont werden sollte, dass eine gruppendynamische T-Gruppe freilich keine Therapiegruppe ist, können wir als Teilnehmer*innen eines solchen Settings uns selbst erleben in unserer sozialen Prägung, die mit der familiären Sozialisation einsetzt. Daher sind – psychoanalytisch gesprochen: Übertragungsphänomene in der Gruppe möglich, die sich darin ausdrücken, dass wir durch die zeitlich, räumlich und sachlich intensive Interaktion mit den anderen Gruppenteilnehmer*innen und der Gruppe als Ganzes auf eigene biographische Interaktionsereignisse stoßen, die unsere Persönlichkeiten in Erleben und Handeln stark geformt haben. Dass wir diesen Prägungen und Formungen jedoch nicht ausgeliefert sind und entscheiden können, wie wir das „Hier und Jetzt“ differenzieren können von vergangenen Erfahrungen, um die Möglichkeiten des Augenblicks zu nutzen, ist ein weiteres Potential, das die T-Gruppe bietet.


Gerade Personen mit Personalverantwortung, also Führungskräfte, welcher Herkunft auch immer, und selbstverständlich Berater*innen können von der T-Gruppe extrem profitieren. Wo sonst können sie unmittelbar erleben, ob sie – und wenn, dann welche – Unterschiede sie im sozialen Kontext durch ihr Handeln und Verhalten anregen. Gerade wenn es in einer immer digitaler und damit beschleunigten sowie komplexen Arbeitswelt darum geht, Performance im Team zu erreichen, weil kein*e Einzelne*r die zu bewältigenden Aufgaben der Organisation bzw. des Teams alleine lösen kann, sind die Erfahrungen in einer T-Gruppe sehr hilfreich, damit tatsächlich so etwas emergiert wie eine kollektive Gruppenintelligenz, die die individuellen Unterschiede der Einzelnen so einbezieht, dass zumindest punktuell und temporär etwas Größeres entsteht. Das Möglichwerden und Entstehen, aber auch das Verebben und Verunmöglichen dieser Form der sozialen Zusammenarbeit, die wir statt „Kooperation“ besser „Kollaboration“ nennen sollten, können wir in einer T-Gruppe beobachten, erforschen und Selbsterkenntnisse daraus ableiten.


Ich bin sehr dankbar, dass Rudi Wimmer und Fritz Simon als Gründungsprofessoren des Wittener Instituts für Familienunternehmen (WIFU) der Universität Witten/Herdecke dieses Lernformat für Studierende etabliert haben. Ich freue mich, dass ich als inhaltlicher Nachfolger der beiden die systemische Variante der Gruppendynamik in die Zukunft tragen darf. Begeistert bin ich angesichts dieses für mich neuen Formats schließlich darüber, dass nicht nur die Wittener Studierenden, sondern auch ich selbst nachhaltige Erfahrungen machen darf, die die Erkenntnisse der Systemtheorie auf ganz neue empirische Füße stellen und zugleich die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit voranbringen.