Zum Tode von Bert Hellinger

Am 19. September 2019 verstarb im Alter von 93 Jahren der zwar sehr umstrittene, aber äußerst einflussreiche und populäre Familienaufsteller Bert Hellinger. Nach einer anfänglichen Euphorie um das systemische Familienstellen, das Hellinger zwar nicht erfunden, aber bekannt gemacht hat,[1] und einer in den 1990er Jahren einsetzenden harten Kritik an seiner Arbeit befasste sich die systemisch-konstruktivistische Szene kaum noch mit dem klassischen Aufstellen. Der Höhepunkt von Hellingers Popularität im systemischen Feld war wohl mit dem von Gunthard Weber 1993 bei Carl Auer herausgegebenen Buch Zweierlei Glück[2] erreicht. Danach setzten die Abgrenzungs- und Differenzierungsbewegungen ein, die mit der Potsdamer Erklärung zur systemischen Aufstellungsarbeit[3] aus dem Jahre 2004 ihren Höhepunkt erreichten. Damit war klar und plausibel veranschaulicht, dass sich Hellingers so genannter systemisch-phänomenologischer Ansatz in theoretischen, ethischen und methodischen Hinsichten grundsätzlich vom systemisch-konstruktivistischen Vorgehen unterscheidet.


Ich will hier die notwendige Kritik an Hellinger Arbeit nicht wiederholen, habe ich doch selbst die Potsdamer Erklärung unterschrieben und fühle mich der systemisch-konstruktivistischen Perspektive verbunden. Was ich demgegenüber versuchen möchte, ist, deutlich zu machen, was Systemiker durch Hellingers Schriften dennoch gewinnen können. Denn es lohnt sich nach wie vor, Bert Hellinger zu lesen und sich mit seinen Thesen zu den „Ordnungen der Liebe“ oder mit seiner Art des Familienstellens auseinanderzusetzen.


Lohnenswert ist die Lektüre zunächst ganz vordergründig deshalb, weil Hellinger in seinen Schriften und transkribierten Gesprächen einen wunderbar poetischen Stil pflegt, der an Rainer Maria Rilke erinnert. Dies ist nicht zufällig so, denn Hellinger war bekennender Rilke-Verehrer. So lesen sich seine Lehrgeschichten, Aphorismen und Parabeln wie Gedichte eines Meisters der Sprache, dem die Ästhetik des Sprechens und Schreibens genauso wichtig ist, wie die Inhalte und Botschaften, die er damit zu vermitteln versucht.


Die bereits erwähnten „Ordnungen der Liebe“[4], die Hellinger als elementare Prinzipien des sozialen Zusammenlebens in existenziellen Beziehungen des privaten, aber auch beruflichen Lebens beschrieben hat, können uns von einer überheblichen Einstellung befreien, die uns in den Sozialwissenschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts immer wieder begegnet, nämlich dem postmodernen Pippi-Langstrumpf-Syndrom. Demnach könnten wir uns die Welt so machen, wie sie uns gefällt. Die Hellinger-Lektüre zeigt, dass dies mitnichten der Fall ist.


Wenn uns die Fackel des Lebens von unseren Eltern gegeben wird, die diese von den Großeltern bekommen haben, denen sie von den Urgroßeltern übergeben wurde etc., dann werden wir damit zugleich in äußerst starke Loyalitätsbeziehungen zu unserer familialen Herkunftsgruppe eingebunden, die unser soziales Gewissen formen und uns kognitiv, emotional und aktional, also hinsichtlich unseres Verhaltens und Handelns nachhaltig prägen, ob wir dies nun wollen oder nicht. Denn das Weitergeben und Nehmen des Lebens selbst sowie das Leben stützender und erhaltender Handlungen bindet jene, die nehmen, an die, die geben.


Der Weg der persönlichen Befreiung, der Eintritt in das eigene, weitgehend autonome und selbstbestimmte Dasein, so lassen sich wohl viele Verlautbarungen Hellingers zusammenfassen, ist die Annahme, die Integration, das Akzeptieren dessen, was sich im Leben als gegeben zeigt.[5] So paradox es klingen mag: Wer die existenzielle Bindung und Verpflichtung bezüglich der eigenen Ursprungsgruppe, aus der das Leben kommt, akzeptiert sowie die dieser Gruppe zugehörigen Personen annimmt, befreit sich von problematischen Verstrickungen und entwickelt eine erwachsene Form der Balance von Bindung und Autonomie.


Dies sind freilich alles keine Erkenntnisse, die einzig auf Hellinger zurückgehen – im Gegenteil: Zahlreiche psychologische und soziologische Forschungen und Theorien des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts beschreiben und erklären dies weitaus fundierter sowie empirisch gesättigt und theoretisch nachvollziehbar.[6] Hellinger hat es jedoch verstanden, die existenzielle Brisanz dieser Erkenntnisse ausgesprochen erfahrungsorientiert und eingängig zu vermitteln. Geholfen hat ihm dabei die Nutzung der systemischen Aufstellungsarbeit.


Das Aufstellen nach Hellinger hat sicherlich viele Transformationen erlebt, geblieben ist jedoch zweierlei, nämlich erstens, dass sich Aufstellungen mithilfe von nur zwei Variablen aufbauen lassen: mit der Modellierung der Nähe und Distanz sowie der Stellungswinkel zwischen den Repräsentanten zueinander, und zweitens, dass sich dadurch etwas erfahren lässt, das wir als „repräsentierende Wahrnehmung“[7] bezeichnen können. Spürbar wird diese Wahrnehmungsform dann, wenn die Repräsentanten in ihren Aufstellungspositionen alle ihre körperlichen und psychischen Unterschiedswahrnehmungen äußern sowie ihre Handlungsimpulse artikulieren und die zuhörenden Klientinnen und Klienten eine Stimmigkeit und Passung zu ihren Gedanken und Gefühlen benennen. Besonders eindrucksvoll ist das vor allem dann, wenn „verdeckt“ gearbeitet wird, wenn also weder die Moderatorinnen und Moderatoren der Aufstellung noch die aufgestellten Repräsentanten das Anliegen und die Geschichte der Klientinnen und Klienten kennen.


Für mich ist das Aufstellen eine der faszinierendsten Methoden, die in den letzten Jahrzehnten im systemischen Feld entstanden ist. Dass dieses Verfahren des Bearbeitens von Anliegen, in welcher Form von Beratung und Therapie auch immer,[8] inzwischen so verbreitet ist und vielen Menschen zu nachhaltigen Anregungen im privaten wie beruflichen Leben verhilft, geht zum großen Teil auf das Wirken Bert Hellingers zurück.


Anmerkungen


[1] Bert Hellinger lernte das Familienstellen bei der Hamburger Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Thea Louise Schönfelder (1925 – 2010) kennen, die ausgehend von der Skulpturarbeit Virginia Satirs das Aufstellen weiterentwickelte und in ihrer praktischen Arbeit intensiv nutzte.


[2] Gunthard Weber (Hrsg.) (1993): Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. Heidelberg: Carl Auer. Inzwischen hat dieses Buch die 18. Auflage erreicht und trägt den neuen, passenderen Untertitel „Das klassische Familienstellen Bert Hellingers“, da es tatsächlich mehr als fraglich ist, ob Hellingers Arbeit als „systemische Psychotherapie“ bezeichnet werden sollte.


[3] Siehe zu dieser Erklärung: Systemische Gesellschaft (2004), abrufbar unter: https://systemische-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2014/01/potsdamer_erklaerg_aufstellarbeit.pdf [13.10.2019].


[4] Siehe dazu etwa sein gleichnamiges Buch: Bert Hellinger (1994): Ordnungen der Liebe. Ein Kursbuch. Heidelberg. Carl Auer.


[5] Sehr aufschlussreich dazu ist der Gesprächsband von Bert Hellinger und Gabriele ten Hövel (1996): Anerkennen was ist. Gespräche über Verstrickung und Lösung. München: Kösel.


[6] Siehe dazu nur den Klassiker von Ivan Boszormenyi-Nagy und Geraldine Spark (1973): Unsichtbare Bindungen. Die Dynamik familiärer Systeme. Stuttgart: Klett-Cotta.


[7] Diesen Begriff hat nicht Hellinger geprägt, er sprach eher von „fremden Gefühlen“. Varga von Kibéd und Sparrer, denen das große Verdienst zukommt, die Aufstellungsarbeit wissenschaftlich fundiert und systematisch lehr- und lernbar gemacht zu haben, schlagen diesen Begriff für das oben benannte Phänomen vor; siehe dazu etwa Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer (2018): Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen. Heidelberg: Carl Auer, 10. Auflage (Erstauflage 2000).


[8] Siehe dazu etwa Heiko Kleve (2020): Aufstellungsarbeit in der systemischen Beratung, in: Christian Stadler und Bärbel Kress (Hrsg.): Praxishandbuch Aufstellungsarbeit. Wiesbaden: Springer (in Vorbereitung).