Zum 70. Geburtstag von Andrea Ebbecke-Nohlen

Blickt man auf die Vita von Andrea Ebbecke-Nohlen, ist man einfach nur erstaunt, wie viel in gerade mal siebzig Jahre hineinpassen kann. Vorausgesetzt, diese Zeit wird von einer Frau gelebt, die unermüdlich ist in Studieren, Lesen, Schreiben, Veranstalten, Organisieren, Publizieren, in praktischer therapeutischer Arbeit, in Wahrnehmung von beruflicher und familiärer Verantwortung, in eigener Aus- und Weiterbildung und der anderer Menschen und nicht zuletzt im Reisen.


Studienaufenthalten in Venezuela und Chile folgten Lehrtätigkeiten in Argentinien, Uruguay, wiederum Chile, Spanien, Polen und anderen Ländern. Dem Studium der Sprachen Englisch und Spanisch sowie der Politischen Wissenschaften folgte ein Psychologie-Studium. Ab 1976 arbeitete sie unter Leitung von Helm Stierlin in dessen Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie in der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidelberg. Andrea Ebbecke-Nohlen war quasi von Beginn an dabei, als sich, wie man sagen könnte, die „Systemische Szene“ in Deutschland entwickelte. Und sie hat sie nachhaltig mitgeprägt.


Sie gründete 1993 die Systemische Gesellschaft (SG) mit und war mehrere Jahre in deren Vorstand. Sie baute als 1. Vorsitzende in Mannheim die Aktionsgemeinschaft Psychosoziale Erstbetreuung auf. Als Lehrtherapeutin der Internationalen Gesellschaft für Systemischen Therapie (IGST) war sie auch dort zeitweise Vorstandmitglied. Sie war 2002 Gründungsmitglied des Helm-Stierlin-Instituts in Heidelberg und leitete es 10 Jahre als 1. Vorsitzende.


Andrea Ebbecke-Nohlens viele klinischen und supervisorischen Tätigkeiten aufzuzählen würde mehrere Seiten füllen, und sicher wäre dennoch einiges nicht erwähnt. Man kann sicher sein, dass ihre Klientinnen und Klienten mit Dankbarkeit daran denken, mit ihr gearbeitet haben zu können.


Besonders glücklich schätzen wir uns natürlich, dass Andrea Ebbecke-Nohlen in unserem Haus ihre erfolgreiche Einführung in die systemische Supervision publiziert hat, die Maßstäbe gesetzt hat und aktuell in der 5. Auflage vorliegt. Auch am Lexikon des systemischen Arbeitens hat sie mitgewirkt.


Wir wünschen Andrea Ebbecke-Nohlen am heutigen 8. Oktober einen wundervollen und genussvollen Tag und gratulieren ihr von ganzem Herzen, verbunden mit großem Dank für so viele Jahre inspirierender Zusammenarbeit.


¡Feliz cumpleaños, Andrea!


 


Aus gegebenen Anlass ein Rückblick: Ein einmaliges Gespräch, das vor fünf Jahren für unsere Jubilarin geführt wurde. Viel Spaß!


 


Gender, Ebbecke & Nohlen.


Eine kurze Begegnung von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann bei Victor Klein anlässlich des 65. Geburtstages von Andrea Ebbecke-Nohlen


Im folgenden stehen die Initialen für die Gesprächspartner Pierre Bourdieu (PB), Victor Klein (VK) und Niklas Luhmann (NL)


VK: Lieber Pierre Bourdieu, lieber Niklas Luhmann, ich danke Ihnen, dass Sie sich bereit erklärt haben, im Rahmen unserer Reihe Kurz und knapp im Trab – Die theoriepraktische Minute mit Victor Klein mit einer fiktiven Figur ein kurzes rasches Streitgespräch über etwas so höchst Reales wie Gender einzulassen. Heute steht unsere Blitz-Sendung im Kontext der Feier des Geburtstages von Andrea Ebbecke-Nohlen. Sie wissen, dass sie als Expertin für den Gender-Komplex – den Themenkomplex – gilt, nicht nur im beraterischen Kontext ...


PB: (unterbricht): Sie sind ja nicht fiktiver als wir, Monsieur Klein. Und Gender ist tatsächlich auf eine Weise realer als wir alle. Und atmosphärisch ja von geradezu revolutionärer Relevanz.


NL: Hm, ich weiß nicht, ob wir da die gleichen Voraussetzungen teilen. Aber das sehen wir dann, nicht. Sicher ist Gender real, aber ...


PB: (unterbricht) Die Realität von Gender ist keine Frage von Voraussetzungen. Gender ist eine habituelle Tatsache.


NL: Den Begriff der Tatsache würde ich hier gern vermeiden oder zurückstellen. Aber wenn Sie ihn möchten, dann würde ich eher so sagen: Gender ist eine Tatsache aus kommunikativer Zuschreibung im Prozess sozialer Systeme.


PB: Ihr Geschlecht ist Ihnen nicht deutlich, Herr Luhmann?


NL: Durchaus. Aber was sagt es? Gender ist etwas anderes als dieses Geschlecht.


VK: Man mag ja schon von vornherein einwenden, es sei aberwitzig, mindestens aber widersprüchlich, wenn drei Männer anlässlich des Geburtstages einer intellektuellen, erfolgreichen, schönen Therapeutin, Weiterbildnerin, Autorin und Gender-Expertin miteinander über Gender reden, und sei es auch noch so kurz.


NL: Sind wir wirklich Männer?


PB: Monsieur Niklas, das werden Sie doch nicht auch noch fraglich finden wollen.


NL: Doch, durchaus. Aber selbst wenn wir es sind – was noch zu klären wäre, und natürlich was das bedeutet – hielte ich es zunächst für unauffällig, dass hier drei Männer sich dieses Themas annehmen. Beobachten kann man wiederum auch dies, und daraus lernen. Zudem sprechen aus mir so viele Frauen ...


PB: Auf jeden Fall ist das Geschlecht, mit dem Sie geboren sind, von vornherein wegbereitend für ihre persönliche und darüber wie in Folge letzterer vollzogener gesellschaftlicher Inkorporation und Habitualisierung. Es definiert wesentliches über Sie als Akteur im sozialen Feld, in dem Ihre Interaktionsbestimmung darüber habitualisiert wird – für Männer mittels zur habituell vollzogenen Akzeptanz dauernd vollzogener gleichfalls interaktionsbestimmter und -bestimmender fraulicher Rituale. – Oder so.


VK: ... also, Sie meinen ...


NL: Das Geschlecht, mit dem Sie geboren sind, ist zuerst einmal noch nichts von Bedeutung. In dieser Hinsicht stimme ich mit Judith Butler überein. Judith Butler hat ja auf die bemerkenswürdige Praxis hingewiesen, durch die mit nicht eindeutigem biologischen Geschlecht Geborene operativ – man könnte sagen: gewaltsam vergeschlechtlicht werden. Dies ist ...


PB: Worauf sonst soll das hinweisen als darauf, dass die Gesellschaft sich des Geschlechts bemächtigt, um sich der Menschen und damit der Akteure zu bemächtigen, die sich wiederum untereinander bemächtigen mit dem Ergebnis männlicher Herrschaft und Dominanz.


VK: Ich frage jetzt einmal als Victoria: Wo setzt für Sie, Herr Luhmann, Gender überhaupt ein?


NL: Dem Auseinandertreten von Interaktion und Gesellschaft in jüngeren sozialen Systemen folgt die Steigerung von Differenzierungen oder Differenzierungsmöglichkeiten, dies wiederum sowohl in Interaktionen wie auf der Ebene der Gesellschaft. Das betrifft denn auch die Rolle von Geschlechtlichkeit als Merkmal in der Beteiligung an Interaktionen und Kommunikation in Organisationen. Damit unterliegt Geschlechtlichkeit ganz anderen funktionalen und viel weniger von vornherein determinierten Bestimmungsgrenzen. Sie entfaltet sich in der Vielfalt realisierter sozialer Systeme und der daraus resultierenden Definitionen von Geschlecht – sofern die überhaupt eine solche fordern, was ja auch nicht immer der Fall ist. Herrn Bourdieus libido dominandi ist ein Zeitphänomen wie die deutsche Mutter. Die Multigeschlechtlichkeit als Option in der Multifunktionalität wird sich enorm steigern.


PB: Geschlechtstypische Erwartungen dominieren nach wie vor alle anderen Erwartungen und Strukturen. Sie sind dermaßen fest verankerte Körpermuster, als vergesellschaftete und vergesellschaftende, dass sie auch Organisationen dominieren, oder eben die organisationale Rolle das erlebte und gelebte Geschlecht. Wir werden das aber sorgfältig empirisch untersuchen.


VK: ... spannend ...


NL: Je mehr die enorme Vielfalt von Individualitätserwartungen aus differenzierten gesellschaftlichen Prozessen bislang etablierte geschlechtsbezogene Erwartungen durchkreuzen, wie Ursula Pasero gesagt hat, desto mehr an professioneller Deformation der libido dominandi werden wir erleben. Sie wird schlicht nicht mehr so gebraucht.


PB: Ja, Ursula Pasero hat das ja so in die Zukunft gemalt: die mangelnde Akkumulation von Humankapital wird Männern bitter aufstossen, die sich auf die libido dominandi weiter verlassen möchten. Genau das wollen wir untersuchen.


VK: Und was heißt das nun alles für zwischenmenschliche Atmosphären?


NL: Wenn wir zwischenmenschliche Atmosphären verstehen als von psychischen Systemen erlebte stimmungsrelevante Äußerlichkeiten aus für diese psychischen Systeme relevanten sozialen Umweltsystemen, dann sehr viel. Das macht sich in Russland, wenn eine Punk-Band wie Pussy Riot in der Kirche auftritt, anders bemerkbar als in Castrop-Rauxel, Liverpool oder Bielefeld. Und für einen Präsidenten und Patriarchen wieder sehr anders als für Sängerinnen.


PB: Atmosphären zu erleben oder überhaupt einschätzbar erleben zu können hängt vom Habitus ab, und hierin dann von Geschlechtlichkeit. Atmosphären sind soziale Tatsachen.


NL: Wir könnten uns einig sein, wenn wir könnten.


VK: Könnte sein. Könnte aber atmosphärisch eher langweilen.


PB/NL (unisono): Hmmm


VK: Vielen Dank, meine Herren – oder meine Damen? – für Ihre Zeit. Beim nächsten Mal begrüßen wir zum Thema Realität, Virtualität und Gender die beiden kunstvollen Figuren Carla Auer und Otty Baume. – Erheben wir nun festlich und freudig die Gläser auf Andreas und Andrea Ebbecke-Nohlen und das Glück, diese Frau zu sein sowie das schöne Glück, mit ihm und ihr in Gesellschaft zu sein.


PB/NL/VK (durcheinander): Glücksein! Wohlsein! Chapeau! Bonne chance! Vivat! Sie lebe hoch! Hoch die Tassen! Auf die Libido! Meine Verehrung! Auf die Vielfältige! Let‘s dance!