Systemische Aspekte des Fußballs - Fritz B. Simon

Heute gibt es bei der Fußball-Europameisterschaft der Herren 2021 die ersten Spiele der Gruppe F. In der Gruppe F spielt auch die deutsche Mannschaft.


Sämtliche Paarungen dieser Gruppe sind Wiederauflagen von Klassikern der Fußball-Geschichte. Heute: Der Weltmeister 2014 (Deutschland) gegen den Weltmeister 2018 (Frankreich). Beide lieferten sich legendäre Duelle in dramatischen Viertel- und Halbfinals. Am Samstag trifft Deutschland auf Portugal, den amtierenden Europameister. 2006, bei der WM im Deutschland (genannt „Das Sommermärchen“), endete das Spiel um Platz 3 mit einem Sieg der deutschen Mannschaft gegen Portugal. Viele erlebten es als das eigentliche Endspiel. Die Stimmung war entsprechend. Jürgen Klopp kommentierte nach dem Spiel: „Erfolg ist eine Frage der Sichtweise. Wir haben´s heute geschafft, den dritten Platz zu feiern, als wär der erste nix.“ Wiederholt sich kommende Woche in München das Wunder von Bern 1954? Deutschland mit Sepp Herberger als Trainer und Fritz Walter als Kapitän holte erstmals den WM-Titel und schlug im Endspiel das als unschlagbar geltende Team aus Ungarn mit Ferenc Puskás, der als bester Fussballer der Welt galt.


Anlass genug, auf ein Buch zu schauen, das im Titel die Wandlung eines der berühmten Herberger-Zitate („Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“) vornimmt.


Unter dem Titel Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs erschien im Carl-Auer Verlag ein fantastisches Buch, herausgegeben von Fritz B. Simon. Ein echter Carl-Auer Klassiker fröhlicher Wissenschaft! Hier zeigen bedeutende Systemtheoretiker (wie Hans Ulrich Gumbrecht, Hellmut Willke, Niklas Luhmann oder Luc Ciompi) und systemische Praktiker (wie Oliver Kahn, Eckart von Hirschhausen, Bernhard K. Sprenger, Bernhard Trenkle, Karl Ludwig Holtz), und natürlich Fritz B. Simon selbst endlich und unmissverständlich: Fußball ist Systemangelegenheit, eher systemisch als systematisch; auf jeden Fall aber: Fußball lässt verstehen, was „systemisch“ bedeutet – wenn man Fußball richtig beobachtet –, und Systemtheorie lässt sich über die entsprechende Beschreibung des Fußballs relativ leicht lernen. Das ist sehr nützlich für das Verständnis aller anderen sozialen Systeme, macht aber vor allen Dingen Spaß!


Wir bringen hier während der gerade laufen Fußball-Europameisterschaft Auszüge aus einem Buch, das ganz zu lesen sich unbedingt lohnt. Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs.


Die Konstruktion systemischer Erklärungen – 
Ein Gedankenexperiment


Fritz B. Simon


Da wir uns hier dem Fußball wie auch systemischen Denk- und Analyseansätzen auf eine etwas andere Art nähern wollen, zunächst ein Gedankenexperiment. Es soll denen, die bislang noch vollkommen unbeleckt von Systemtheorie und Konstruktivismus sind, den Unterschied zu den gewohnten Erklärungsmodellen für menschliches Verhalten illustrieren.


Gedankenexperimente haben ja viele Vorteile: Man muss nicht alles, was theoretisch möglich ist, tatsächlich ausprobieren. Sie sind kostengünstig, weil das, was sich im gedanklichen Probehandeln als unnütz erweist, gar nicht erst realisiert werden muss; man braucht sich nicht an den harten Realitäten der physischen Welt zu stören, sondern kann hypothetisch und spielerisch einzelne Bedingungen der Welt verändern, um zu überprüfen, wie sie sich dann weiter entwickeln würde oder entwickelt hätte, wenn …


In diesem Sinne wollen wir – gewissermaßen um bei Null anzufangen – ein Gedankenexperiment vorschlagen, dass sich außerordentlich gut bewährt hat, um ein paar Grundprinzipien systemischen Denkens zu illustrieren (vgl. Simon 2009, S. 40 ff.). Und – das ist ein weiterer Vorteil – es zeigt exemplarisch, welche Fragen aus systemischer Sicht am Fußball interessant sind oder sein könnten:


Stellen Sie sich vor, dass Sie noch nie etwas vom Fußball gehört haben (nicht dem Ball, dem Spiel): Sie wissen nicht, dass es solch ein Spiel gibt, kennen die Regeln nicht, haben keine Ahnung, welchen Sinn das Ganze hat oder haben könnte. Nun verschlägt Sie ein glücklicher oder unglücklicher Zufall eines Tages auf die Tribüne eines Stadions. Auf dem Spielfeld befinden sich 22 Spieler, ein Schiedsrichter, zwei Linienrichter und ein Ball. Auf der Tribüne sitzen außer Ihnen noch 49.999 andere, mehr oder weniger begeisterte Zuschauer. Nun die erste experimentelle Veränderung:


Stellen Sie sich vor, mit Ausnahme des Schiedsrichters würden alle genannten Personen (einschließlich des Balls, der zweifellos der Aufgeblasenste der Beteiligten ist) Tarnkappen tragen, welche sie für Sie – nur für Sie – unsichtbar machen. Spieler und Schiedsrichter sehen sich; es entwickelt sich ein Spiel, genauso gut oder schlecht wie alle anderen auch. Die Akteure und Zuschauer können keinen Unterschied zu früheren Spieltagen feststellen. Nur Sie sind der Wirkung der Tarnkappe ausgesetzt. Stellen Sie sich darüber hinaus noch vor, dass auch die typischen Geräusche, die ein Fußballspiel normalerweise begleiten (spitze Schreie der Ekstase oder Empörung, Pfeifen, Tröten, Schiedsrichter-ans-Telefon-Rufe etc.) wunderbarerweise Ihrer Wahrnehmung entzogen wären. Was sehen Sie jetzt? Und was denken Sie über diesen erwachsenen Mann, der da in kurzen, schwarzen Hosen auf dem Rasen hin- und herhetzt, gelegentlich mit einer gelben Karte herumfuchtelt, in eine Trillerpfeife bläst, (Selbst-?) Gespräche führt, schimpft, ermahnt, Grimassen schneidet und wild gestikuliert?


Es wird von Ihrer diagnostischen Phantasie und Vorbildung abhängen, wie Sie das Verhalten dieses merkwürdigen schwarzen Mannes beurteilen. Wenn Sie nicht an magische Kräfte glauben, die ihn fernsteuern, so werden Sie wahrscheinlich die Ursachen für sein überaktives und nicht einfühlbares Verhalten innerhalb der Grenzen suchen, die durch seine Haut gegeben sind. Je nachdem welche Denkrichtung mehr Ihrem Geschmack entspricht, werden Sie entweder vermuten, dass bei ihm eine Schraube locker, der Stoffwechsel entgleist oder seelisch etwas durcheinandergeraten ist. In allen drei Erklärungsversuchen begrenzen Sie ihr Beobachtungsfeld auf unsere Versuchsperson. Sie versuchen eine Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen dem Verhalten des Schiedsrichters und irgendwelchen (mechanischen, physiologischen oder psychischen) Prozessen, die in ihm ablaufen, zu konstruieren.


Verändern wir nun eine weitere Variable in unserer Versuchsanordnung: Nehmen Sie den 22 Spielern, den Linienrichtern und dem Ball die Tarnkappen ab. Nun wird Ihnen das Verhalten des Schiedsrichters in einem etwas anderen Licht erscheinen. Das Trillerpfeifen und Fuchteln mit farbigen Karten – so können Sie vermuten – scheint gehäuft dann aufzutreten, wenn einer der Herren im gelben Hemd einem der Herren mit dem roten Shirt vors Schienbein tritt. Nach einiger Zeit der Beobachtung werden Sie (versuchsweise) Regeln formulieren können, durch welche Sie das Geschehen auf dem Spielfeld beschreiben können. Sie sollten sich dabei aber klar sein, dass es sich bei diesen Regeln um beschreibende Regeln handelt, durch die Sie das Verhalten der Spieler beschreiben, wie Sie es beobachten. Ob unser Schiedsrichter und die Spieler sich dabei wirklich nach solchen Regeln richten (das wären dann vorschreibende Regeln) oder nur so tun, als ob …, können Sie nicht wissen. Sie können also eigentlich keinerlei Aussage über das, was im Inneren der Beteiligten abläuft, ihre Gedanken und Gefühle oder die Regeln, nach denen sie ihr Verhalten ausrichten, machen.


Auf jeden Fall dürfte nun, wo Sie Ihr Beobachtungsfeld über die Grenzen des schwarz gekleideten Individuums hinaus erweitert haben, sein Verhalten etwas berechen- und vorhersagbarer und weniger unsinnig erscheinen. Sie werden vermuten, dass es nicht vom Zufall bestimmt wird, sondern geordnet ist und einen Sinn hat, der irgendwo in den Spielregeln verborgen liegt.


Mit Ausdauer und Kombination können Sie im Laufe der Zeit einen Katalog solcher Regeln zusammenstellen, die nicht nur beschreiben, was der Schiedsrichter tut oder lässt, sondern das ganze Spiel (zumindest, was Sie für das Wesentliche daran halten). Diese Regeln sind logisch widerspruchsfrei; das Verhalten jedes einzelnen Spielers erscheint Ihnen logisch schlüssig, solange es den Regeln folgt, die Sie ge- oder erfunden haben. Durch solche Spielregeln ist zwar nicht vorherbestimmt, was jeder Spieler wann tun wird (Fußball wäre sonst sehr langweilig und sicher schon vor ewigen Zeiten ausgestorben), es ist aber ein Rahmen möglicher (erlaubter) und unmöglicher (verbotener) Spielzüge abgesteckt.


Wenn Sie nun jedoch, noch voller Entdeckerstolz, erschüttert feststellen müssen, dass dieser Schiedsrichter, dieses Sorgenkind, das Ihnen schon so viel Kopfzerbrechen bereitet hat, in einer Situation, in der dies nach allem, was Sie über Fußball zu wissen glauben, nicht angemessen ist, plötzlich der Mannschaft mit den gelben Trikots einen Elfmeter zuspricht, was denken Sie dann? Vor allem, wenn dies nicht nur einmal geschieht (es könnte ein Zufall, ein Versehen sein) sondern dreimal hintereinander?


Sie müssen nun überprüfen, ob Sie irgendetwas Wichtiges übersehen haben und Ihre Regelsammlung erweitern müssen. Wenn Sie nach sorgfältiger Prüfung zu dem Schluss kommen, dass es keine überzeugenden Gemeinsamkeiten zwischen den drei fragwürdigen Situationen gab und dass sie sich nicht hinreichend von ähnlichen Situationen auf der Gegenseite unterscheiden, in denen kein Elfmeter gegeben wurde, so werden Sie von der Formulierung einer neuen Regel Abstand nehmen.


Sehen Sie nun aber die vielen Zuschauer und bemerken Sie, dass es bei den Aktivitäten der Spieler nicht allein um körperliche Ertüchtigung und sportlichen Wettstreit geht, sondern um Geld, so werden Sie sich erneut fragen, ob Sie die Grenzen Ihres Beobachtungsfeldes nicht erweitern müssen, um die Geschehnisse erklären zu können. Kommt Ihnen dann gar zu Ohren, dass für das hübsche kleine Eigenheim des Schiedsrichters in der nächsten Woche die Hypothekenzinsen fällig werden und auf seinem Konto am Tag vor dem Spiel ein beträchtlicher Geldbetrag, gestiftet von einer Firma, deren Name unübersehbar auf den gelben Hemden gedruckt steht, eingegangen ist, so dürfte Ihnen sein Verhalten erneut in einem anderen Licht erscheinen: nicht verrückt, sondern verständlich, dafür aber verrucht, verdorben oder verwerflich.


Dieses Gedankenexperiment soll illustrieren, dass das Verhalten jedes einzelnen Menschen, mehr als durch von außen nicht zu durchschauende psychische Prozesse, durch die Spielregeln des sozialen Kontextes zu erklären sind. Natürlich muss jeder, der aufs Spielfeld geht, irgendeine Motivation dazu haben, und er muss körperlich und mental in der Lage sein mitzuspielen. Das sind Voraussetzungen, die gegeben sein müssen – unverzichtbare Randbedingungen, Aspekte der psychischen Umwelten des Spiels. Sie erklären aber nicht, warum ein Spieler einen Steilpass vor das gegnerische Tor spielt. Dies ist allein durch den konkreten Spielverlauf und die aktuelle Spielsituation zu erklären. Und der Möglichkeitsraum der Spielzüge ist durch die aktuell gültigen Spielregeln des Fußballs zwar begrenzt, sie legen aber nicht fest, was der einzelne Spieler innerhalb dieses Spielraums konkret tut oder lässt. Nur deswegen sind solche Spiele für Zuschauer wie Spieler spannend.


Die Psyche des Spielers als Randbedingung des Spiels zu betrachten, enthebt uns allerdings nicht der existenziellen Frage, warum sich überhaupt jemand auf den Platz begibt. Sie lässt sich nicht auf Grundlage der Regeln des Fußballs beantworten. Nur so viel kann gesagt werden, dass die Regeln zu den je individuellen Gründen passen müssen. Mögen diese die Freude am Spiel oder Kampf sein, körperliche Funktionslust, die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, oder was auch immer …


Analoges gilt für andere Gesellschaftsspiele: das alltägliche Zusammenleben, Erotik, die Firma, die Wirtschaft, die Politik etc. Alles gesellschaftlich Wesentliche kann am Beispiel Fußball beobachtet und studiert werden: Es bedarf allerdings der Übertragung auf den jeweils interessierenden Bereich. Auch das macht Fußball so spannend …