Sex ist gut, selbstbestimmter Sex ist besser

Man konnte den Seufzer Ende April fast hören, der durch ganz Dänemark ging, als der Sprecher von der dänischen Gesundheitsbehörde Søren Brostrøm sagte, dass auch Singles trotz der Corona-Maßnahmen Sex haben dürfen. „Sex ist gut, Sex ist gesund, das Gesundheitsamt befürwortet Sex”, antwortete er in einem Live-Interview auf die Frage, ob Singles Sex haben dürften. Plötzlich bekamen alle Singles in Dänemark den offiziellen Segen, wieder raus zu gehen und Sex zu haben – auch während der COVID-19 Krise. Es gäbe natürlich „ein Risiko auf Infizierung“, aber mit gesunder Vernunft könne man sich doch mal raus wagen.


Es gibt dabei ein „aber“ für mich. Sex ist nicht immer gut, Sex ist nicht immer gesund. Das zeigt sich oft in meiner Praxis. Und hier ist nicht die allgemein nicht akzeptierte Form der sexuellen Gewalt gemeint. Oft höre ich auf meine Frage, ob Klienten das Gefühl haben, sie sollten Sex haben, oder auch, ob sie überhaupt Sex haben möchten, die Antwort „Ja klar, ich muss doch Sex haben.” Es ist, als ob sie gar nicht selbst überlegten, ob sie überhaupt Sex wollen. Wenn sie für sich selbst sagen können, dass sie es schon wollen und auch vermissen, entsteht natürlich ein anderes Gespräch. Aber nicht selten kommt wie gesagt die Antwort, man müsse doch Sex haben. Schließlich sei Sex gesund, das weiß man, und jetzt wurde es ausgerechnet vom Gesundheitsminister nochmals ganz deutlich bestätigt. Gleichzeitig wurde dadurch ein riesiger Mythos bestätigt, und zwar leider einer, der viel Schaden anrichten kann. Das Statement von dem dänischen Gesundheitsministerium sollte daher unbedingt nuanciert werden.


Nicht selten erlebe ich in meinen Paartherapien, dass ein Partner, der weniger Lust hat, sich als der “identifizierte Patient” vorstellt (meist natürlich mit anderen Worten). Aber schnell wird deutlich, dass derjenige, der sich schlecht fühlt, der ist, der nicht das von unserer Gesellschaft propagierte Sexleben anstrebt. Er hat einfach nicht viel Lust. Dahinter können sehr viele gute Gründe stecken, und man kann in einer Therapie herausfinden, was die geringe Lust eigentlich kommunizieren will.


Stattdessen höre ich manchmal meine Klienten erzählen, dass sie trotz geringer Lust Sex haben. Sie willigen darauf ein – nicht weil es schön ist, sondern um das Ego des Partners zu schonen. Oder um die Beziehung nicht zu gefährden. Oder um sich „normal“ zu fühlen. Es passiert auch, dass Klienten mir berichten, dass sich der Sex mehr und mehr wie ein Übergriff anfühlt. Und manchmal sitzt der Partner daneben, der davon nichts weiß, weil sie nie über die eigenen Bedürfnisse gesprochen haben.


Es wird also nochmal schwieriger für denjenigen, der die geringere Lust hat, wenn Spezialisten wie Herr Dr. Brostrøm etwas so unnuanciert darstellen. Ich hätte mir gewünscht, dass er seiner Botschaft eine Portion Extra-Kraft gegeben hätte, indem er hinzugefügt hätte, dass Sex gut ist, wenn er einvernehmlich ist und die Bedürfnisse von allen Involvierten respektiert. Aber vielleicht ist es auch zu viel erwartet, eine so nuancierte Botschaft zu geben, wenn man so spontan gefragt wird.


Eins ist sicher – die Aussage bestätigt das Bild, dass viele Deutsche und andere Europäer von Dänemark haben: Dass es ein lockeres und sexpositives Land ist. Dass das dänische Gesundheitsamt in Zeiten einer Krise Sex auf die Tagesordnung rückt, zeigt auch, wie wichtig das Zusammenkommen und gegenseitige Berühren sind. Sex ist für viele gerade wesentlich, weil Erotik als Antipode zur der Konfrontation mit dem Tod funktionieren kann. Und wer weiß, vielleicht war das die eigentliche Message, die Herr Dr. Brostrøm zwischen den Zeilen mitteilen wollte.